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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Szene aus Bangarra-Stück<br />

„OUR land people stories“<br />

Tanz<br />

Verjagt, verscharrt und entwurzelt<br />

VISHAL PANDEY<br />

<strong>Der</strong> Künstlerische Direktor der<br />

australischen Tanzkompanie<br />

Bangarra, Stephen Page, 52,<br />

über die Massaker an den Urein -<br />

wohnern seines Landes und<br />

den Versuch, ihren Geist in der<br />

Kunst zu beleben<br />

SPIEGEL: Welche Geschichte<br />

erzählt Bangarra?<br />

Page: Unser Land hat kein<br />

Narrativ wie „Schindlers Liste“<br />

oder ein Curriculum, das<br />

in den Schulen die rund<br />

65 000-jährige Geschichte der<br />

schwarzen Ureinwohner<br />

lehrt, die von den Briten gejagt<br />

und in Massengräbern<br />

verscharrt, die Überlebenden<br />

entwurzelt und in Reservate<br />

gepfercht wurden. Die Tänzer<br />

vermitteln Geschichten<br />

über die Beziehung der Ureinwohner<br />

zum Leben, zu ihrem<br />

Land – die philosophischspi<br />

rituellen Prinzipien ihrer<br />

Lebenskultur.<br />

SPIEGEL: Was ist denn die Botschaft?<br />

Page: Erst 1967 wurden die<br />

Aborigines durch ein Referendum<br />

als Menschen anerkannt.<br />

Davor galten sie als Wilde,<br />

die zur Flora und Fauna des<br />

Landes zählten. Es geht uns<br />

bei all dem darum, ihr Vermächtnis<br />

darzustellen und<br />

ihre Vergangenheit auferstehen<br />

zu lassen.<br />

SPIEGEL: Als Tänzer, der<br />

selbst Wurzeln im Nunukul-<br />

Stamm hat, sind Sie seit<br />

Gründung der Gruppe 1989<br />

dabei. Was treibt Sie an?<br />

Page: Ich betrachte mich als<br />

Geschichtenerzähler. Natürlich<br />

geht es auch um Versöhnung,<br />

um Kontaktaufnahme<br />

mit diesem Erbe, um ein neues<br />

Denken und, in diesen modernen<br />

Zeiten, um die Stärkung<br />

eines gemeinsamen<br />

Geistes.<br />

SPIEGEL: Was werden die Zuschauer<br />

bei Ihren Gastspielen<br />

in Bonn und Berlin zu sehen<br />

bekommen?<br />

Page: In Bonn präsentieren<br />

wir nun eine Art von Best-of-<br />

Programm und die Verbindung<br />

der Ureinwohner mit<br />

den Elementen. In Berlin<br />

wird es die Geschichte der<br />

Ankunft der Briten in Australien<br />

sein, die Massaker, die<br />

geschahen, aus der Perspek -<br />

tive jener, die sie erlitten<br />

haben. suk<br />

Literatur<br />

Zwischen Drogerie und Bäckerei<br />

Die Schriftstellerin Nora Bossong, 35, über das Treffen einer Art Gruppe 47, die keine sein will<br />

Es gibt keine Handynummer, aber irgendwo soll ein Schild<br />

sein mit der Aufschrift Gruppe 47. Wie früher also. Und tatsächlich,<br />

da steht sie, die Reisegruppe, über die ich vor Jahren<br />

meine erste Uniprüfung abgelegt habe und die nun am Infopoint<br />

des Nürnberger Hauptbahnhofs wartet. Den meisten<br />

der Schriftstellerinnen und Schriftsteller bin ich längst begegnet,<br />

einigen persönlich, vielen durch ihre Texte, doch in der<br />

Gruppe, da kann Hans Magnus Enzensberger mit noch so jungenhaftem<br />

Charme die Bedeutung der Gruppe relativieren,<br />

wirkt es zumindest auf mich dann eben doch – wie ein Mythos,<br />

etwas skurril zwischen Drogerie und Bäckerei platziert.<br />

Dort, wo 1967 die alte Pulvermühle stand und Studenten gegen<br />

die „Papiertiger“ demonstrierten, hängen heute bunte<br />

Lichterketten, die Lesungen sind auf verschiedene Orte in der<br />

Kleinstadt verteilt. Es ist keine Tagung, kein Wiederaufleben<br />

der Gruppe, was 50 Jahre später stattfindet; das anzunehmen<br />

wäre auch verstiegen. Vieles, was durch sie entstanden ist,<br />

lebt ohnehin, wenn auch gewandelt, im Literaturbetrieb fort,<br />

anderes hatte seine Funktion in einer bestimmten Zeit und<br />

lässt sich nicht in die Gegenwart übertragen. Manche Fragen<br />

kann man natürlich immer wieder stellen: wie literarische<br />

Spracharbeit und politische Reflexion zueinander stehen, wie<br />

man sich als Intellektuelle Gehör verschafft, ob sich einsame<br />

Schreibarbeit mit einer Gruppe verträgt. Die Antworten sind<br />

heute andere als 1947 oder 1967. Sich in der Provinz zu treffen<br />

aber scheint mir trotz Lichterkette zeitgemäßer denn je – in<br />

einer „Ersatz-Hauptstadt“, um der Aufgeregtheit Berlins zu<br />

entkommen.<br />

118 DER SPIEGEL 43 / 2017

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