20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Das deutsche Nachrichten-Magazin<br />
Leitartikel<br />
Men, too<br />
Männer müssen endlich ihre Stimme gegen sexuelle Belästigung von Frauen erheben.<br />
Wenn mächtige Kotzbrocken wie Harvey Weinstein<br />
öffentlich als Vergewaltiger bezichtigt werden,<br />
macht das die Welt sicherlich ein bisschen<br />
besser. Wie wunderbar, dass nicht nur Hollywoodstars<br />
Sexismus anprangern, sondern seit dieser Woche auch<br />
Frauen, denen glänzendes Scheinwerferlicht egal ist. Mit<br />
#MeToo haben sich betroffene Frauen quer durch alle<br />
Länder und Schichten in den sozialen Netzwerken als Opfer<br />
sexualisierter Gewalt geoutet.<br />
Ihr Aufschrei wird aber erst die volle Wirkung entfalten,<br />
wenn sich auch Männer angesprochen fühlen. Und<br />
zwar jene Mehrheit der Männer, die Frauen nicht belästigen.<br />
Wer zur Gruppe der Anständigen gehört, denkt<br />
häufig, das alles gehe ihn nichts an. Weiße Westen sind<br />
aber keine Entschuldigung<br />
für Wegsehen.<br />
Die Täter könnten nur deshalb<br />
so ungestraft agieren,<br />
„weil sie von einer schweigenden<br />
Masse gedeckt“ würden,<br />
schreibt der Unternehmensberater<br />
Robert Franken in<br />
seinem Blog. Es ist leider<br />
eine Einzelmeinung. Anstatt<br />
sich zu empören, verharm -<br />
losen viele Männer sexuelle<br />
Belästigung mit Sätzen wie:<br />
„Jetzt ist es schon so weit,<br />
dass ich die Frisur der Kollegin<br />
nicht mehr loben darf.“<br />
Niemand will in einer Welt<br />
leben, in der sich Menschen<br />
keine Komplimente mehr<br />
machen dürfen. Auch Frauen<br />
nicht. Darauf können wir uns<br />
alle schnell einigen. Aber damit<br />
ist die Diskussion über<br />
Sexismus nicht zu Ende.<br />
Es kann wirklich schwierig sein, die Grenze zwischen<br />
nett gemeinter Geste und sexistischem Spruch zu erkennen.<br />
Zumal sie individuell und darum bei jeder Frau<br />
anders verläuft. Es ist ein Unterschied, ob man einer<br />
Kollegin in der Kaffeeküche oder im Morgenmeeting<br />
zum Kauf der neuen Schuhe gratuliert.<br />
Neben dem Ort entscheidet auch die Augenhöhe, ob<br />
ein Kompliment angebracht ist. Keine Praktikantin möchte<br />
vom Abteilungsleiter als „charmante neue Mitarbeiterin“<br />
begrüßt werden, weil auch Frauen von Vorgesetzten<br />
lieber für ihre Leistung gelobt werden. Trainerinnen,<br />
die Bosse für Machtmissbrauch sensibilisieren, gibt es<br />
kaum. Stattdessen wird Frauen beigebracht, wie sie<br />
sich per „Arroganz-Prinzip“ in einen Macho ver wandeln,<br />
wenn sie auf der Führungsebene mitreden möchten.<br />
Sprechen Frauen Sexismus offen an, fühlen sich Männer<br />
oft in der Defensive. Das scheint bei vielen reflexhaft<br />
eine Verbrüderung auszulösen. Das Erobern liege nun<br />
mal in der Natur des Mannes. Echte Kerle benähmen sich<br />
manchmal daneben.<br />
Und sind Frauen nicht selbst schuld? Hinter vorgehaltener<br />
Hand heißt es dann, Frauen würden Sexismus nur<br />
beklagen, wenn er ihnen nicht nutze. Praktikantinnen,<br />
die jede Woche vom Chef einen Kaffee spendiert bekämen,<br />
würden schließlich auch nicht mit einer Ohrfeige<br />
ablehnen.<br />
Ja, es gibt Frauen, die Netzstrumpfhosen einsetzen,<br />
um Aufträge an Land zu ziehen, und das ist bedauerlich.<br />
Aber es gibt auch immer noch zu viele männliche<br />
Führungskräfte, die Jobs nach Attraktivität statt nach<br />
Kompetenz vergeben. Viele Männer entwickeln erst ein<br />
Bewusstsein für Sexismus,<br />
wenn sie selbst zum Opfer<br />
werden. Erst dann können sie<br />
verstehen, wie sich Scham<br />
und Hilflosigkeit anfühlen.<br />
Oder es ist die Geburt einer<br />
Tochter, die Männer zu Feministen<br />
werden lässt. Wenn es<br />
die eigene Tochter betrifft,<br />
nehmen sie das Verhalten<br />
LOUISE MACKINTOSH<br />
ihrer Geschlechtsgenossen<br />
plötzlich als potenziell bedrohlich<br />
wahr und fragen sich,<br />
was man gegen sexuelle Übergriffe<br />
tun kann.<br />
Es stimmt nicht, dass sexuelle<br />
Belästigung Männer, die<br />
sich selbst nichts vorzuwerfen<br />
haben, nichts angeht. Wer<br />
schweigt, schützt die Täter<br />
und stützt ein System, das<br />
Frauen klein halten will. Es<br />
mag Überwindung kosten<br />
und ungewohnt sein: Aber<br />
warum ist es so schwer, den Kollegen, von dem alle<br />
wissen, dass er immer wieder Praktikantinnen belästigt,<br />
darauf kritisch anzusprechen? Es wäre jedenfalls wirkungsvoller,<br />
wenn Männer Männern Grenzen setzen würden,<br />
bevor eine Frau zum Aufschrei ansetzt. Und natürlich<br />
müssen sich die Machtstrukturen ändern: Wer zum Beispiel<br />
dafür sorgt, dass in Unternehmen genauso viele<br />
Frauen wie Männer das Sagen haben, schafft eine Atmosphäre<br />
der Gleichberechtigung, in der Machtmissbrauch<br />
seltener ist.<br />
Man muss seinen Nebensitzer im Büro nicht gleich beim<br />
Chef denunzieren, wenn er gehässige Witzchen über die<br />
Körperfülle einer Kollegin macht. Aber muss man mit -<br />
lachen? Es reicht nicht aus, wenn Frauen Sexismus offen<br />
ansprechen. Die Männer müssen mitreden. Den Leitartikel<br />
zur nächsten Aufschrei-Debatte darf dann gern ein Kollege<br />
schreiben.<br />
Anna Clauß<br />
8 DER SPIEGEL 43 / 2017