20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Kultur<br />
„Autor der totalen Schlaffheit“<br />
SPIEGEL-Gespräch Die fremde Nähe zwischen Deutschland und Frankreich, die letzten<br />
Zuckungen der Linken, sein heroischer Pessimismus – Michel Houellebecq zieht Bilanz.<br />
Sein Verschwinden hatte er schriftlich angekündigt:<br />
Zu seinem letzten Interview empfing<br />
Frankreichs prominentester und umstrittenster<br />
Schriftsteller Houellebecq, 61, während der<br />
Buchmesse Ende voriger Woche in seinem<br />
Hotel zimmer. <strong>Der</strong> Autor sprach, wie von ihm<br />
gewohnt, ernsthaft und zögerlich, rauchte ununterbrochen<br />
und schenkte sich spanischen<br />
Rotwein ein. Im Schauspiel Frankfurt hatte er<br />
zwei Tage zuvor einen improvisierten Vortrag<br />
über den Zustand der europäischen Kultur gehalten.<br />
Er habe vor Kurzem beschlossen, so<br />
hatte er dem SPIEGEL geschrieben, seine Einlassungen<br />
in der Öffentlichkeit einzustellen.<br />
Für die Frankfurter Buchmesse und den<br />
SPIEGEL mache er eine Ausnahme: Er finde<br />
es ziemlich gut, dass sein letztes Interview<br />
„dans mon magazine préféré“ (in seinem Lieblingsmagazin)<br />
erscheine.<br />
SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, Sie sind<br />
zugleich ein Starautor und ein Skandal -<br />
autor, der bewundert, geliebt und verabscheut<br />
wird. In Deutschland sieht man in<br />
Ihnen den radikalsten Schriftsteller unserer<br />
Zeit, einen schonungslosen Diagnostiker<br />
des Leidens und der Einsamkeit des modernen<br />
Individuums. In Frankreich gelten<br />
Sie vielen als Provokateur und Schmuddel -<br />
literat und stehen im Mittelpunkt unzäh -<br />
liger Polemiken. Wie verstehen Sie diesen<br />
Unterschied?<br />
Houellebecq: Schwer zu sagen, ich habe keine<br />
schlüssige Erklärung. Vielleicht ertragen<br />
die Deutschen, von der Geschichte und<br />
der in ihr angehäuften Schuld unvergleichlich<br />
viel schlimmer mitgenommen, den<br />
Blick in den <strong>Spiegel</strong> besser. Es kann sein,<br />
dass man mich in Frankreich nicht liebt,<br />
weil man die Gesellschaft und die Wirklichkeit,<br />
die Dürftigkeit und das Elend der<br />
Moderne, die ich beschreibe, nicht liebt.<br />
Man darf aber nicht den Radiologen für<br />
das Entstehen des Krebsgeschwürs verantwortlich<br />
machen. Frankreich schätzt die<br />
Epoche nicht, in der es lebt.<br />
SPIEGEL: Büßen Sie persönlich für die Negativität<br />
Ihrer Romanfiguren?<br />
Houellebecq: Die französischen Journalisten<br />
sind oft wie besessen von der Frage,<br />
wie viel von mir in meinen Protagonisten<br />
steckt. Deshalb schnüffeln sie in meiner<br />
Biografie und sogar in meiner Unterwäsche.<br />
Sie sind die moralischen Hohepriester<br />
einer Zeit ohne Religion und Moral.<br />
Sie wollen haftbar machen, zur Rechenschaft<br />
ziehen, verurteilen und bestrafen.<br />
120 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
Deshalb versucht man, mich als Nihilisten<br />
und Reaktionär abzustempeln. Man erhebt<br />
mich zum Propheten, um mir anzulasten,<br />
was kommt. Meiner Erfahrung<br />
nach sind die deutschen Journalisten viel<br />
ernsthafter bei der Sache, wenn sie ein<br />
Buch vorstellen. Man soll sich vor Allgemeinheiten<br />
hüten, ich jedenfalls habe sehr<br />
viel weniger schlechte Erfahrungen mit<br />
deutschen als mit französischen Journalisten<br />
gemacht.<br />
SPIEGEL: Danke für das Kompliment, aber…<br />
Houellebecq: Bin ich deprimiert, oder ist<br />
die Welt deprimierend? Für die deutschen<br />
Medien scheint die Unterscheidung klar,<br />
für die französischen werde ich mich wohl<br />
nie von der Sünde der Verzweiflung los -<br />
sagen können. Ich ziehe die Medien an,<br />
weil ich medienuntauglich bin.<br />
SPIEGEL: Sind Sie ein germanophiler Autor?<br />
Houellebecq: Ja, schon. Jedenfalls habe ich<br />
eine bessere Kenntnis der deutschen Literatur<br />
und Philosophie als die meisten meiner<br />
Kollegen.<br />
SPIEGEL: Wie kam es dazu?<br />
Houellebecq: Als einen der ersten Deutschen<br />
habe ich Friedrich Nietzsche gelesen.<br />
Seine Geisteskraft imponierte mir, obwohl<br />
ich seine Philosophie unmoralisch und abstoßend<br />
fand. Ich hätte gern sein Fundament<br />
zertrümmert, wusste aber nicht, wie<br />
ich es intellektuell anstellen sollte. Als ich<br />
25 oder 27 Jahre alt war, entdeckte ich<br />
Arthur Schopenhauer – eine Erleuchtung,<br />
eine wirkliche Erschütterung. Auch liebe<br />
ich die deutschen Romantiker sehr, Novalis,<br />
Kleist vor allem. Die deutsche Romantik<br />
verbreitete sich damals so unwiderstehlich<br />
wie der Rock ’n’ Roll in den Fünfzigerjahren.<br />
Zu Recht.<br />
SPIEGEL: Sie haben für Ihre Hommage an<br />
Schopenhauer Passagen aus seinem Werk<br />
selbst ins Französische übersetzt*. Aber<br />
Sie sprechen kein Deutsch?<br />
„Eine Religion, ein<br />
wahrer Glaube, ist sehr<br />
viel mächtiger in der<br />
Wirkung auf die Köpfe<br />
als eine Ideologie.“<br />
Houellebecq: Ich traue mich nicht, nicht<br />
mehr. Ich könnte keine ordentlichen deutschen<br />
Sätze bilden. Aber ich könnte unter<br />
Umständen Deutsch lesen, wenn ich nicht<br />
so ein Faulpelz wäre.<br />
SPIEGEL: In der Europäischen Union sind<br />
Deutschland und Frankreich so aufeinander<br />
fixiert wie keine anderen Länder. Aber<br />
jenseits aller rituellen Freundschaftsbezeugungen<br />
– wie weit kennen sich die beiden<br />
Nationen wirklich, die man gern als<br />
unzertrenn liches Paar beschreibt?<br />
Houellebecq: In Frankreich redet man über<br />
Deutschland mehr als über alle anderen<br />
europäischen Länder zusammengenommen.<br />
Das ist verblüffend. Doch ich glaube,<br />
die Deutschen kennen die Franzosen besser<br />
als umgekehrt, schon weil sie öfter<br />
nach Frankreich kommen als die Franzosen<br />
nach Deutschland.<br />
SPIEGEL: Damit meinen Sie aber jetzt die<br />
Touristen und nicht die Truppen des Kaisers<br />
oder der Wehrmacht?<br />
Houellebecq: Wieder ein Beispiel dafür,<br />
dass der Deutsche sich selbst misstraut.<br />
Nein, was ich meine, das geht viel weiter<br />
als der gewöhnliche Tourismus. Viele Deutsche<br />
kaufen sich eine Wohnung oder ein<br />
Haus und lassen sich in Frankreich nieder.<br />
Die Franzosen wissen dagegen wenig von<br />
den Deutschen. Sie sind von ihnen beeindruckt,<br />
aber sie beneiden sie nicht. Deshalb<br />
ist die Beziehung ziemlich gut, obwohl<br />
der Vergleich der beiden Länder immer<br />
zum Nachteil Frankreichs ausfällt. Die<br />
übertriebene Selbstentwertung der Franzosen<br />
bringt sie nicht dazu, die Deutschen<br />
zu hassen, sondern sich selbst zu verachten.<br />
SPIEGEL: Das betrifft allenfalls die Wirtschaftskraft,<br />
nicht die kulturelle Ausstrahlung.<br />
Frankreich ängstigt sich vor dem industriellen<br />
Niedergang.<br />
Houellebecq: Das ist keineswegs eine eingebildete<br />
Gefahr.<br />
SPIEGEL: <strong>Der</strong> französische Philosoph und<br />
Kulturanthropologe René Girard hat das<br />
Verhältnis beider Länder zueinander seit<br />
Napoleon und Clausewitz als „mimetische<br />
Rivalität“ beschrieben, die ständigen Konfliktstoff<br />
erzeuge.<br />
Houellebecq: Das überzeugt mich nicht. <strong>Der</strong><br />
Blick auf Deutschland hält die Franzosen<br />
dazu an, sich zu berappeln. Das war schon<br />
* Michel Houellebecq: „In Schopenhauers Gegenwart“.<br />
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. DuMont;<br />
76 Seiten; 18 Euro.