20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Ausland<br />
SPIEGEL: Herr Kurz, Sie sind 31 Jahre alt<br />
und womöglich bald Bundeskanzler. Sind<br />
Sie sich manchmal selbst unheimlich?<br />
Kurz: Überhaupt nicht. Ich bin mir aber der<br />
großen Verantwortung bewusst. Bei mir<br />
hat sich in den vergangenen Jahren vieles<br />
sehr schnell, aber auch nicht von heute<br />
auf morgen entwickelt. Ich habe mehr als<br />
sechs Jahre Regierungserfahrung. Die Entscheidung<br />
zur Spitzenkandidatur habe ich<br />
mir nicht leicht gemacht. Ich habe mich<br />
im Mai entschieden, die Österreichische<br />
Volkspartei zu verändern, eine breite Bewegung<br />
zu starten – mit dem Ziel, dieses<br />
Land zum Positiven zu verändern.<br />
SPIEGEL: Verstehen Sie, dass es anderen<br />
Leuten unheimlich ist, wenn ein so junger<br />
Mensch die Geschicke eines Landes übernimmt?<br />
Kurz: Wenn’s den Menschen in Österreich<br />
so ginge, dann hätten sie mich wahrscheinlich<br />
nicht gewählt. Die Österreicher konnten<br />
sich in all den Jahren ein Bild von mir<br />
machen. Andere Kandidaten waren wesentlich<br />
kürzer auf der politischen Bühne.<br />
Manche Kandidaten in Deutschland, die<br />
davor auf europäischer Ebene tätig waren,<br />
waren den Wählern vermutlich fremder.<br />
SPIEGEL: Wünschen Sie sich nicht manchmal,<br />
für dieses Amt mehr Lebenserfahrung<br />
zu haben?<br />
Kurz: Jeder ist, was er ist. Man wird nicht<br />
von heute auf morgen 30 Jahre älter. Ältere<br />
haben natürlich den Vorteil breiterer Lebenserfahrung.<br />
Aber deswegen sollte man<br />
sich als junger Mensch nicht in eine Depression<br />
stürzen. Wenn das junge Alter<br />
wirklich ein Problem ist, bleibt immer noch<br />
als Trost: Es wird von Tag zu Tag besser.<br />
SPIEGEL: Ständig wird über Ihr Äußeres geredet<br />
und geschrieben. Ärgert Sie das?<br />
Kurz: Das habe ich nicht so erlebt. Im Wahlkampf<br />
ging es um vieles, um Inhalte, um<br />
Stil, um „dirty campaigning“ mit Methoden,<br />
die wir in Österreich eigentlich nicht<br />
wollen – aber was kaum ein Thema war,<br />
ist die Frage, wie die Spitzenkandidaten<br />
ausschauen.<br />
SPIEGEL: Ihre jugendliche Erscheinung war<br />
schon immer wieder ein Thema.<br />
Kurz: Es sollte um Inhalte gehen. Natürlich<br />
bekomme ich SMS, da steht dann drin:<br />
„Nimm doch eine Krawatte, wenn Du ins<br />
Fernsehen gehst“. Aber danach richte ich<br />
mich nicht.<br />
SPIEGEL: Am Mittwoch ist in Wien ein Magazin<br />
erschienen, auf dessen Cover Sie als<br />
„Neofeschist“ bezeichnet werden – in Anlehnung<br />
an Jörg Haider.<br />
Kurz: Außer mit Haider bin ich auch schon<br />
mit Viktor Orbán verglichen oder als<br />
einer beschrieben worden, der den ganzen<br />
Tag auf dem Schoß von Frau Merkel<br />
hockt. Nichts davon ist Realität, aber ich<br />
nehme zur Kenntnis, dass es in der Politik<br />
und in den Medien dazugehört, jemanden<br />
in eine Schublade zu zwängen. Ich ver -<br />
suche dagegen, mit meinen Ideen zu überzeugen.<br />
SPIEGEL: Bei der Wahl am 15. Oktober kamen<br />
ÖVP und FPÖ zusammen auf fast<br />
60 Prozent. Das gab es noch nie nach dem<br />
Krieg. Was ist der Grund für diese Verschiebung<br />
nach rechts?<br />
Kurz: Auch ÖVP und SPÖ sind zusammen<br />
auf fast 60 Prozent gekommen. Es stimmt:<br />
Auch die FPÖ hat klar dazugewonnen. Das<br />
heißt wohl, dass zusätzliche Wähler die Linie<br />
dieser Partei ansprechend fanden. Wir als<br />
Volkspartei sind eine Kraft aus der Mitte der<br />
Bevölkerung. Als ich im Mai die Partei übernehmen<br />
durfte, haben wir die Entscheidung<br />
getroffen, eine breite Bewegung zu starten.<br />
In den letzten Monaten haben wir 200000<br />
neue Unterstützer gewonnen – in einem kleinen<br />
Land mit neun Millionen Einwohnern.<br />
SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, die Dia -<br />
gnose Rechtsruck sei Quatsch?<br />
Kurz: Ich möchte Diagnosen des SPIEGEL<br />
nicht infrage stellen. Das Wahlergebnis ist<br />
aber eindeutig – die Volkspartei hat diese<br />
Wahl gewonnen. In den letzten 50 Jahren<br />
gab es das zuvor nur einmal, dass kein Sozialdemokrat<br />
der Sieger war. Wir wissen,<br />
dass uns auch viele Grünen-Wähler ihre<br />
Stimme gegeben haben.<br />
SPIEGEL: Wollen Sie künftig nicht eher<br />
rechts Politik machen?<br />
Kurz: Hart arbeitende Menschen in Österreich<br />
können sich immer schwerer etwas<br />
aufbauen. Wir sind ein absolutes Spitzensteuerland.<br />
Es gibt kaum ein Land auf der<br />
Welt, in dem die Differenz zwischen Brutto-<br />
und Nettogehalt so groß ist wie bei uns.<br />
Die Steuer- und Abgabenquote ist deutlich<br />
höher als in Deutschland, obwohl es bei<br />
Ihnen auch funktionierende Spitäler und<br />
Schulen gibt. Wir wollen veraltete Strukturen<br />
aufbrechen, um einen serviceorientierten<br />
schlanken Staat zu schaffen. Seit<br />
1990 haben sich die Ausgaben im Gesundheitssystem<br />
verdreifacht, und trotzdem<br />
wird die Qualität der Leistungen, vor allem<br />
in Wien, immer schlechter. Wir nähern uns<br />
immer mehr der Zweiklassenmedizin.<br />
SPIEGEL: Kann ein Einzelner wirklich eine<br />
Partei, ja gar ein ganzes Land von Grund<br />
auf erneuern?<br />
Kurz: Niemand kann das allein, aber ich<br />
war in meinem ganzen politischen Leben<br />
noch nie allein. Wir haben, ganz im Gegenteil,<br />
die breiteste Bewegung in Österreich<br />
überhaupt geschaffen. Und stellen<br />
nun die größte Zahl auch an neuen Abgeordneten,<br />
die Expertise aus ihren bisherigen<br />
Bereichen mitbringen – aus der Wirtschaft,<br />
aus der Wissenschaft.<br />
SPIEGEL: Was ist Ihnen nun lieber? Eine<br />
schwarz-blaue Koalition mit der FPÖ, was<br />
im Ausland wenig beliebt wäre? Oder eine<br />
schwarz-rote, ein Bündnis mit der SPÖ,<br />
was in Österreich nicht so gut ankäme?<br />
Kurz: Mein Ziel ist eine stabile Regierung,<br />
die auch die Kraft hat, Veränderung möglich<br />
zu machen. Auch eine Minderheits -<br />
regierung ist denkbar, wenn man keinen<br />
Koalitionspartner findet – das ist aber nicht<br />
das Ziel. In Österreich braucht man für<br />
viele Entscheidungen eine Zweidrittelmehrheit.<br />
Das wäre zum Beispiel möglich,<br />
wenn man zusätzlich die Neos (eine liberale<br />
Partei –Red.) hinzuzöge.<br />
SPIEGEL: Aber mit wem wollen Sie re -<br />
gieren?<br />
Kurz: Ich werde mit allen Parteien reden.<br />
Ich muss diese Gespräche abwarten.<br />
SPIEGEL: Eine Koalition mit der SPÖ unter<br />
dem als konservativ geltenden Verteidigungsminister<br />
Hans Peter Doskozil wäre<br />
eine Alternative zur FPÖ?<br />
Kurz: Ich habe mit Doskozil immer sehr<br />
gut zusammengearbeitet und schätze ihn.<br />
SPIEGEL: Ihr wichtigstes Wahlkampfthema<br />
war die Migration. Zeigt Ihr Sieg, dass man<br />
Rechtsaußen-Parteien schlagen kann,<br />
wenn man ihre Themen übernimmt?<br />
Kurz: Politiker sollten das tun, was sie für<br />
richtig erachten, und nicht Strategien verfolgen,<br />
mit denen sie glauben, Wahlen gewinnen<br />
zu können. Ich habe seit Beginn<br />
der Flüchtlingskrise eine klare, konsequente<br />
und – wenn Sie so wollen – harte Linie<br />
gegen illegale Migration verfolgt. In Staaten<br />
wie Österreich sind Ordnung und<br />
Sicherheit in Gefahr, wenn wir Migration<br />
nicht steuern. Es geht nicht nur um Menschen<br />
aus Syrien und dem Irak, sondern<br />
auch um Millionen Menschen in Afrika,<br />
die bereit sind, nach Europa zu kommen,<br />
wenn sie das Gefühl haben, der Weg sei<br />
offen.<br />
SPIEGEL: <strong>Der</strong> FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian<br />
Strache sagt, fast 60 Prozent der Österreicher<br />
hätten diesmal das Programm der<br />
FPÖ gewählt.<br />
Kurz: Strache hat recht, wenn er sagt, dass<br />
es in gewissen Fragen Überschneidungen<br />
und Gemeinsamkeiten in den Programmen<br />
gibt. Wir haben aber bei anderen Themen<br />
auch Gemeinsamkeiten mit anderen<br />
Parteien. Das ist gut so. Wie sollten wir<br />
sonst in der Politik zusammenarbeiten?<br />
Ich würde mir auch auf europäischer Ebene<br />
mehr Übereinstimmung wünschen.<br />
SPIEGEL: Sie werden wegen Ihres Alters<br />
manchmal mit dem französischen Präsidenten<br />
Emmanuel Macron verglichen. <strong>Der</strong><br />
hat den Front National, das Pendant zur<br />
FPÖ, klar bekämpft. Sie halten es für möglich,<br />
mit einer Rechtsaußen-Partei zu koalieren.<br />
Welche Strategie ist richtig?<br />
Kurz: Macron hat den starken Willen, in<br />
Europa etwas zum Positiven zu verändern.<br />
Als europäischer Bürger und österreichischer<br />
Politiker bin ich darüber froh. Ich<br />
werde alles dafür tun, ihn und andere zu<br />
unterstützen, die vorhaben, die EU zu verändern<br />
und damit zu stärken. Was seine<br />
Haltung zu Marine Le Pen angeht: Die<br />
politischen Systeme sind überhaupt nicht<br />
vergleichbar. In Österreich bekommt die<br />
DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
85