20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Sträflich kurzsichtig<br />
Analyse Mit der Eroberung von Rakka ist das „Kalifat“ tot, doch der IS lebt weiter.<br />
Denn die Gründe, die zu seinem Aufstieg führten, sind noch immer da.<br />
Anti-IS-Kämpfer in Rakka<br />
BULENT KILIC / AFP<br />
<strong>Der</strong> „Islamische Staat“ hat Rakka endgültig verloren,<br />
seine Hochburg in Syrien. Anfang der Woche nahmen<br />
kurdisch geführte Milizionäre nach monatelangen<br />
Kämpfen die letzten Bastionen des IS ein, ein Krankenhaus<br />
und das Fußballstadion. Das Grauenskalifat ist<br />
nun Geschichte. Zumindest in seiner Form als Herrschaft<br />
über Städte, Land und zeitweise Millionen Menschen, mit<br />
einem Verwaltungsapparat, Grenzen und Fahnen, kurz:<br />
als quasistaatliche Macht symbolisierendes Projekt.<br />
Die IS-Strategen sind Virtuosen der Symbolik, und nichts<br />
hatte mehr Strahlkraft, passte besser zu frühislamischen<br />
Prophezeiungen als der Eroberungsfeldzug von 2014. Doch<br />
auch der Westen und alle, die<br />
nun das Ende des IS feiern, haben<br />
sich von dieser Symbolik<br />
blenden lassen. Allen voran die<br />
USA, die ihren Krieg gegen den<br />
IS zur Priorität machten. Nein,<br />
es war absolut kein Fehler, gegen<br />
den IS zu Felde zu ziehen.<br />
Es war nur sträflich kurzsichtig,<br />
dies inmitten eines mörderischen<br />
Krieges in Syrien und eines<br />
zutiefst zerrissenen Iraks zu<br />
tun – ohne sich Gedanken um<br />
die Zeit danach zu machen.<br />
Nun ist zwar das „Kalifat“<br />
verschwunden, Rakka zurück -<br />
erobert. Doch die Bedingungen<br />
haben sich nicht verbessert, der<br />
Hass zwischen Sunniten und<br />
Schiiten ist sogar gewachsen.<br />
Und der IS floriert in solch einem<br />
Vakuum, in dieser Atmosphäre<br />
von Krieg und Hass. Er<br />
geht jetzt wieder in den Untergrund,<br />
wo er sich auch früher schon geschmeidig bewegt<br />
hat. Die wenigen Überlebenden ziehen sich in Wüsten -<br />
gebiete und Dörfer zurück. 90 Prozent der Führer sind tot.<br />
Sollte es den restlichen gelingen, sich neu zu organisieren,<br />
könnten sie eines Tages wieder zuschlagen, am ehesten<br />
dann wohl unter einem neuen Label. Die Umstände dafür<br />
wären jedenfalls günstig.<br />
Wie rasch der Hauptfeind von gestern absorbiert wird<br />
durch die Kämpfe von morgen, zeigt der Umgang mit den<br />
letzten IS-Leuten in deren gerade eroberten Hochburgen.<br />
In Rakka schlossen die kurdischen Befreier einen Deal mit<br />
den verbliebenen Kämpfern und deren Familien: freier<br />
Abzug gegen Aufgabe, inklusive der ausländischen Kämpfer.<br />
Im irakischen Hawidscha, wo noch weit mehr IS-Kämpfer<br />
ausharrten, gab es einen ähnlichen Deal zwischen der<br />
Terrorgruppe und der kurdischen Autonomieregierung.<br />
Nach Aussage von Zeugen entkamen so Hunderte Kämpfer<br />
mitsamt ihren schweren Waffen ins Kurdengebiet.<br />
<strong>Der</strong> IS war gestern. Nun ist der Irak wieder mit voller<br />
Wucht da angekommen, wo er vor 2014 stand: Araber gegen<br />
Kurden, Bagdad gegen Arbil. Die mit amerikanischen<br />
wie deutschen Waffen hochgerüsteten Kurden stimmten<br />
am 25. September auf Betreiben ihres Präsidenten Masoud<br />
Barzani in einem Referendum für die Unabhängigkeit<br />
ihrer Autonomieregion im Norden des Irak – und darüber<br />
hinaus für die Annexion der Ölmetropole Kirkuk sowie<br />
jener Gebiete, die ihre Truppen im Sommer 2014 unter<br />
Kontrolle gebracht hatten, als die irakische Armee wie<br />
gelähmt war von der Blitzoffensive des IS.<br />
<strong>Der</strong> Vorstoß der Kurden ging am vergangenen Montag<br />
krachend schief: <strong>Der</strong> irakische Premier Haider al-Abadi<br />
schickte die Armee, ebenfalls aufgerüstet von den USA,<br />
sowie die von Teheran kontrollierten<br />
schiitischen Milizen nach<br />
Kirkuk. Binnen Stunden büßten<br />
die Kurden alle neu gewonnenen<br />
Gebiete rings um Kirkuk<br />
ein. Darüber hinaus verloren<br />
die beiden herrschenden Kurdenparteien<br />
jedes Ansehen im<br />
Volk: Barzanis KDP, weil sie<br />
das Referendum gegen alle Warnungen<br />
forciert hatte. Und die<br />
PUK, gegründet vom ehema -<br />
ligen irakischen Präsidenten<br />
Dschalal Talabani, weil sie einen<br />
Deal mit der Zentralregierung<br />
gemacht und sich kampflos<br />
aus Kirkuk zurückgezogen<br />
hatte, dem „kurdischen Jerusalem“,<br />
das bis zum letzten Blutstropfen<br />
zu verteidigen sich die<br />
Kurden stets geschworen hatten.<br />
Was dies für Kurdistan, wo<br />
Stolz eine Währung ist wie Geld,<br />
bedeutet, lässt sich kaum überschätzen.<br />
Auf dem kurdischen Fernsehsender Rudaw TV<br />
brachen erst die Peschmerga, dann der Journalist in Tränen<br />
aus über das, was sie als schmählichen Verrat ansehen.<br />
Niemand spricht heute mehr von Mossul, der einstigen<br />
Millionenstadt, die erst im Juli vom IS befreit wurde. Auch<br />
die Befreiung Rakkas wird bald vergessen sein, überrollt<br />
von den kommenden Kämpfen darum, wer die Ruinenstadt<br />
künftig beherrschen wird: die kurdischen Truppen, die<br />
alles daransetzen, ihr gewonnenes Terrain zu konsolidieren<br />
– oder die Armee von Machthaber Assad und seinen<br />
Hilfstruppen aus dem Irak, Libanon und Afghanistan.<br />
Und die USA, die den Anti-IS-Kampf vorantrieben? Sie<br />
machen Politik als Wille ohne Vorstellung. Sie würden im<br />
Irak nun nicht Partei ergreifen, so Präsident Donald Trump.<br />
Und eine Sprecherin des Außenministeriums sagte: Die<br />
Idee sei, in Rakka die Grundversorgung instand zu setzen,<br />
„aber kein Nationbuilding“ zu betreiben. Anschließend<br />
könne die Stadt „dem Gastland“ zurückgegeben werden.<br />
Auf die Frage, wie dies funktionieren solle, mitten im<br />
Krieg, hatte sie keine Antwort.<br />
Christoph Reuter<br />
DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
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