20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Kultur<br />
„Das detailreichste und<br />
enthüllendste Porträt einer der<br />
größten Bands aller Zeiten“<br />
EMPIRE<br />
Ab 20.10. als Special Edition<br />
inkl. 4,5 Stunden<br />
exklusivem Bonusmaterial<br />
seiner eigenen Werke nahm er mit in den<br />
beiden Koffern. Und die Bücher? Die sind<br />
bei Verwandten in Hasaka gestapelt. Als<br />
es kalt wurde im Winter und die Verwandten<br />
erzählten, wie sehr sie froren, sagte<br />
Hamza: „Verbrennt die Bücher.“ Sie weigerten<br />
sich. „Menschen sind doch wichtiger<br />
als Bücher“, sagt Hamza.<br />
Nun ist er wieder von Büchern umgeben,<br />
und vielleicht wird er eines Tages sagen,<br />
sie hätten ihn gerettet. Seit einem halben<br />
Jahr hat er einen Aushilfsjob in der<br />
Buchhandlung Slawski, meist montags und<br />
dienstags, für zehn Euro die Stunde. <strong>Der</strong><br />
Laden ist klein, aber gut sortiert und gemütlich,<br />
Kunden sitzen gern auf dem blauen<br />
Sofa in der Mitte und lesen. Wenn Hamza<br />
ein Buch aus dem Regal zieht, nimmt<br />
er es vorsichtig, fast zärtlich in die Hand.<br />
Man könne sich mit ihm über die ganze<br />
Weltliteratur unterhalten, lobt seine Chefin<br />
Monika Külper. Sie schwärmt von seinen<br />
Umgangsformen, die Kunden liebten<br />
ihn. Seine Deutsch wird immer besser. Die<br />
Buchhandlung öffnet um neun Uhr, doch<br />
Hamza bittet, zum Interview später zu<br />
kommen, erst müssten die Kundenbestellungen<br />
erledigt sein. Er ist ein höflicher,<br />
bescheidener Mann, er will seine Dankbarkeit<br />
zeigen. Deutschland nennt er ein<br />
„gutes Exil“.<br />
Eigentlich sei er ja bereits in Syrien im<br />
Exil gewesen, sagt er. Ein Regimekritiker,<br />
Kurde dazu, der sich schon 2004 an einem<br />
friedlichen Sitzstreik vor dem Parlament<br />
in Damaskus beteiligte. Als Anwalt verteidigte<br />
Hamza ehrenamtlich auch politische<br />
Häftlinge, schrieb kritische Artikel. Zwei<br />
seiner Gedichtbände sind in Syrien verboten.<br />
2004 hatte er noch den Mohammedal-Maghout-Preis<br />
bekommen für Lyrik.<br />
„Ich komme aus einem unglücklichen<br />
Land“, sagt Hamza. Einem Land, in dem<br />
die Bauern den Wetterbericht nicht mehr<br />
verfolgten, wie er in einem Gedicht<br />
schreibt: „<strong>Der</strong> Himmel bedeutet uns nichts<br />
mehr/ und inzwischen legen wir unsere<br />
Söhne in die Erde anstelle von Saatgut.“<br />
In Buchholz fragt er seine Söhne immer<br />
wieder: Wollt ihr zurück? Nein, sagen sie<br />
dann. Sie seien glücklich in ihrer Schule,<br />
sie gehen in die zweite und die vierte Klasse,<br />
sie haben Schwimmen gelernt, spielen<br />
Fußball, sein ältester Sohn malt. Sie haben<br />
eine schöne Wohnung bekommen.<br />
„Das syrische Volk braucht psychologische<br />
Hilfe“, sagt Lina Atfah, „wir haben<br />
den Glauben an alles verloren.“ Ihre Mutter<br />
ist zu Besuch gekommen, sie nickt.<br />
Dann weint sie. Sie war Französischlehrerin<br />
in Syrien, eine schmale, fein gekleidete<br />
Frau. Sie lebt jetzt mit ihren jüngeren Kindern<br />
in der Nähe. Immer, wenn von ihrem<br />
Mann die Rede ist, weint sie. „Ich war<br />
schon so verzweifelt, dass ich mich fragte,<br />
wessen Hand ich küssen könnte, damit er<br />
herkommt“, sagt Lina Atfah.<br />
Nun hat die Familie zum ersten Mal Hoffnung.<br />
Sie haben an das Kanzleramt geschrieben,<br />
wo Atfah beim Tag der Offenen<br />
Tür ihre Gedichte las, und an das Auswärtige<br />
Amt. Das hat sich inzwischen gemeldet,<br />
man will sich kümmern. Sie sei Deutschland<br />
so dankbar, sagt Atfah, aber dass der<br />
Familiennachzug ausgesetzt sei für viele<br />
Flüchtlinge, finde sie ein großes Unrecht.<br />
Bevor sie ausreisen konnte, musste sie<br />
Verhöre der Sicherheitsbehörden über sich<br />
ergehen lassen. Immer wieder die Frage:<br />
„Warum schreibst du gegen uns? Warum<br />
schreibst du nicht für Assad?“ 2011 hatte<br />
sie sich an den Protesten beteiligt, man<br />
verweigerte ihr deshalb zunächst die Papiere.<br />
Schon als 17-Jährige kritisierte sie<br />
in einem Gedicht, die Menschen stürben<br />
an Hunger, die Gouverneure dagegen, weil<br />
sie zu viel äßen.<br />
Dann kam der Tag ihrer Ausreise, ohne<br />
das Recht auf Rückkehr. „Ich wollte alle<br />
Kleider mitnehmen, meine Erinnerungen,<br />
meine Kindheit.“ So kam sie mit einem<br />
Aref Hamza sagt, er<br />
träume nicht mehr.<br />
Er habe aber auch keine<br />
Albträume mehr.<br />
50 Kilogramm schweren Rucksack in<br />
Deutschland an, voller Kleider, arabischer<br />
Süßigkeiten, einer Teekanne samt Teegläsern<br />
und Löffeln, Büchern und zwölf Flaschen<br />
ihres Lieblingsparfums.<br />
Vor drei Wochen hat Lina Atfah ihre erste<br />
Deutschprüfung, Niveau A1, bestanden.<br />
Sie war so stolz, dass sie sich gleich wieder<br />
für einen Intensivkurs angemeldet hat. Gerade<br />
sind neue Gedichte von ihr erschienen.<br />
Und sie probiert, auf Deutsch zu schreiben:<br />
„ Ich versuche zu leben. Ich versuche neue<br />
Adresse zu buchstabieren. Ich versuche<br />
meinen alten <strong>Spiegel</strong> zu zerbrechen.“<br />
Aref Hamza sagt, er träume nicht mehr.<br />
Aber er habe auch keine Albträume mehr.<br />
Eines Tages kam sein Sohn zu ihm und<br />
küsste ihm die Hand. „Was ist?“, fragte er<br />
ihn. „Du hast gesagt, wir werden schöne<br />
Plätze sehen“, sagte sein Sohn, „und du<br />
hast nicht gelogen.“<br />
Seitdem weiß Hamza, dass er das Richtige<br />
getan hat, als er seine Heimat verließ<br />
und sein Haus und seine Bücher und sein<br />
Anwaltsbüro und seine Freunde und die<br />
langen Nächte, die er so liebte, in denen<br />
man zusammensaß und nicht an den nächsten<br />
Morgen dachte.<br />
Nun überlegt er, ob er die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft beantragt. Er sucht<br />
einen Ausbildungsplatz in einem Anwaltsbüro.<br />
Und: Im Frühjahr erscheint sein<br />
erster Gedichtband auf Deutsch.<br />
Annette Großbongardt<br />
132 DER SPIEGEL 43 / 2017