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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Dichter Hamza in der Buchholzer Buchhandlung Slawski: „Ich komme aus einem unglücklichen Land“<br />

LUCAS WAHL / DER SPIEGEL<br />

Ein Gedicht für Wanne-Eickel<br />

Exil Weiterleben nach dem Krieg: wie zwei syrische Schriftsteller versuchen, in der<br />

deutschen Provinz eine neue Heimat zu finden<br />

130 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Sie sitzt im Deutschkurs. Sie soll sprechen,<br />

sich beteiligen. Aber sie versteht<br />

kein Wort. Sie schweigt. Plötzlich<br />

meldet sie sich, weil sie Durst hat: „Ich<br />

möchte eine Tasse Wasser.“ Da klatschen<br />

alle. Die Lehrerin ruft: „Super, Lina!“ und<br />

gibt ihr ein Stück Schokolade. Sie weint.<br />

„Ich fühlte mich wie in der ersten Klasse“,<br />

erzählt Lina Atfah, 28.<br />

Atfah ist Lyrikerin, sie hat arabische Literatur<br />

studiert, doch jetzt muss sie<br />

Deutsch lernen wie ein Kind in der Schule.<br />

Den Intensivkurs an der Uni brach die Syrerin<br />

damals ab, nun besucht sie eine Integrationsklasse<br />

an der Volkshochschule Herne.<br />

Sie soll ihre Adresse sagen und ihre<br />

Postleitzahl. Sie lebt jetzt unter Menschen,<br />

die ihre Sprache nicht verstehen, ihre Gedichte<br />

nicht lesen können.<br />

Sie weiß, sie müsste schneller Fortschritte<br />

machen im Deutschen. Aber sie will Gedichte<br />

schreiben, sie muss schreiben. Sie<br />

fühlt, jetzt ist ihre Chance. „Gerade gibt<br />

es in Deutschland so viel Interesse an arabischer<br />

Literatur. Wer weiß, ob in zwei<br />

Jahren noch einer nach uns fragt?“<br />

Im November 2014 verließ die Schriftstellerin,<br />

die wegen ihrer kritischen Gedichte<br />

und Artikel seit Jahren nicht bei<br />

Kulturveranstaltungen auftreten durfte,<br />

ihre Heimatstadt Salamija in Westsyrien.<br />

Jetzt lebt sie in Wanne-Eickel. Im einstigen<br />

Kohlerevier, an das nur noch ein paar<br />

alte Fördergerüste erinnern. Nicht weit<br />

vom Bahnhof, in Wanne, hat sie eine kleine<br />

Wohnung mit ihrem Mann, einem Physiker.<br />

Sie hat noch schnell das Treppenhaus<br />

gewischt, sie sind mit dem Putzdienst dran.<br />

Nun sitzt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer<br />

und pustet sich ein paar Haare aus<br />

der Stirn. Atfah ist impulsiv, temperamentvoll,<br />

sie lacht gern, selbst jetzt, wenn sie<br />

von ihrem Heimweh spricht. Wird sie je<br />

zurückkehren können? Welches Syrien<br />

wird es dann sein?<br />

„Ich hatte Glück“, sagt sie und dreht den<br />

Satz gleich um: „Hatte ich Glück?“ Sie ist<br />

gerettet, aber ihr Land liegt großteils in<br />

Trümmern. So viele sind tot, verletzt, leiden<br />

im Gefängnis. In ihrer Heimatstadt,<br />

die regimetreue Milizen kontrollierten,<br />

greife der „Islamische Staat“ wieder mit<br />

Mörsergranaten an, berichtet Atfah.<br />

Oft ist sie von Schuldgefühlen geplagt.<br />

Sie darf noch mal neu anfangen, aber was<br />

ist mit denen, die dortbleiben mussten?<br />

Manchmal, sagt sie, gehe sie tagelang nicht<br />

aus dem Haus. In der ersten Zeit in Deutschland<br />

konnte sie nicht schreiben, hatte Panikattacken.<br />

„Wir haben die Bomben überlebt/<br />

und jetzt ist unser Leben zu weit weg/<br />

als dass wir es uns zurückholen könnten.“<br />

Aref Hamza, 43, hat das geschrieben,<br />

nachdem er im Juni 2014 in Deutschland<br />

angekommen war. Auch er ist Lyriker, im<br />

Hauptberuf war er Anwalt. Er und seine<br />

Familie überlebten die Kämpfe in seiner<br />

Heimatstadt Hasaka und die Flucht nachts<br />

durch Nordsyrien über die türkische Grenze.<br />

Einmal wanderten plötzlich Lichtstrahlen<br />

vor ihnen über den Boden, offenbar<br />

ein Kontrollposten, aber sie blieben unent-

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