20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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„Viele Männer sind überfordert“<br />
Geschlechter Die Journalistin Laura Himmelreich über Sexismus von älteren Männern gegenüber<br />
jüngeren Frauen – und darüber, was der #Aufschrei-Diskurs gebracht hat<br />
Himmelreich, 34, ist Chefredakteurin des<br />
Online-Jugendmagazins Vice.com. Sie wurde<br />
2013 bundesweit bekannt, als sie – damals<br />
noch als Politikredakteurin des „Stern“ – in<br />
einem Porträt des damaligen FDP-Fraktionsvorsitzenden<br />
Rainer Brüderle beschrieb, wie<br />
anzüglich er sich ihr gegenüber verhalten hatte.<br />
<strong>Der</strong> Fall löste eine Sexismusdebatte aus. Auf<br />
Twitter schilderten Tausende Frauen unter<br />
#Aufschrei ihre Erfahrungen.<br />
SPIEGEL: Frau Himmelreich, dürfen Männer<br />
Frauen in Zukunft keine Komplimente<br />
mehr machen?<br />
Himmelreich: Doch, natürlich. Das Problem<br />
von Sexismus besteht nicht darin, dass<br />
Menschen sich Komplimente machen. Das<br />
Problem ist, dass dabei oft die Grenze zum<br />
Unangenehmen überschritten wird. Wenn<br />
der Chef zu seiner Mitarbeiterin sagt, sie<br />
sehe bezaubernd aus, mag das nett gemeint<br />
sein. Gleichzeitig kann es sein, dass<br />
sie sich durch das Wort „bezaubernd“<br />
herab gesetzt und in ihrer beruflichen Posi -<br />
tion nicht ernst genommen fühlt. Beide<br />
Sichtweisen sind legitim.<br />
SPIEGEL: Wo verläuft diese Grenze?<br />
22 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
Himmelreich: Wenn es einen Leitfaden gäbe,<br />
der für alle Menschen gleichermaßen funktionierte,<br />
wäre alles ganz einfach. Aber<br />
die Grenzen sind individuell. Wenn sich<br />
die Gesprächspartner nicht gut kennen,<br />
sollte man lieber etwas vorsichtiger als zu<br />
forsch sein.<br />
SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass Männer<br />
verunsichert sind?<br />
Himmelreich: Wer wirklich verunsichert ist,<br />
kann einfach nachfragen: „Hey, ich finde,<br />
du siehst toll aus – ist es in Ordnung, wenn<br />
ich das so sage?“<br />
SPIEGEL: Umgekehrt könnten viele Frauen<br />
ihre Grenzen auch deutlicher kommunizieren.<br />
Himmelreich: Sie tun es bereits, aber das ist<br />
nicht immer so einfach. Wollen Sie wirklich,<br />
dass ständig Meetings unterbrochen<br />
werden, um darüber zu diskutieren, ob<br />
der flapsige Spruch des Kollegen jetzt angemessen<br />
war oder nicht? Den netten<br />
Plausch in der Kaffeeküche ausbremsen,<br />
weil der Blick über den Rand der Tasse hinaus<br />
Richtung Dekolleté gewandert ist?<br />
Ich finde es problematisch, die Verantwortung<br />
den Frauen zuzuschieben.<br />
GREY HUTTON / VICE<br />
SPIEGEL: Warum?<br />
Himmelreich: Weil wir Frauen Besseres zu<br />
tun haben, als ständig unsere Grenzen<br />
zu markieren. Weil es unser Recht ist,<br />
respekt voll behandelt zu werden. Nicht<br />
Frauen sind schuld, wenn sie Übergriffen<br />
ausgesetzt sind, sondern die Männer,<br />
die solche Übergriffe verüben. Außerdem<br />
ist es anstrengend, sich ständig fragen<br />
zu müssen: Wehre ich mich jetzt, oder<br />
könnte das unangenehme Konsequenzen<br />
haben?<br />
SPIEGEL: Inwiefern?<br />
Himmelreich: Wenn der Faktor Macht hinzukommt,<br />
wird es kompliziert, vor allem<br />
im Beruflichen. Es fällt schwerer, sich zu<br />
wehren, wenn man Nachteile für die Karriere<br />
fürchtet. Im Fall Weinstein sehen wir,<br />
dass ein starkes Machtgefälle dazu führt,<br />
dass Übergriffe spät öffentlich werden.<br />
SPIEGEL: Wieso entfachen die Geschichten<br />
über Weinstein, die weit weg in den USA<br />
und dazu im glamourösen Hollywood spielen,<br />
hierzulande so eine Debatte?<br />
Himmelreich: Weil Sexismus auch hier ein<br />
großes Problem ist. Er läuft nur normalerweise<br />
unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle<br />
ab, als Alltagsphänomen<br />
im Leben der meisten Frauen, oft ohne<br />
Konsequenzen für die Täter. Weinstein<br />
bekommt die Folgen zu spüren, das rüttelt<br />
die Leute auf. Probleme brauchen Ge -<br />
sichter, damit wir uns mit ihnen beschäftigen.<br />
Geschichten wie die von Angelina<br />
Jolie treffen uns, weil wir bei einer Frau,<br />
die Lara Croft war, nicht erwarten, dass<br />
sie ähnliche Erfahrungen macht wie viele<br />
von uns.<br />
SPIEGEL: Aber es ist doch ein Unterschied,<br />
ob ein Mann einer Frau auf der Straße hinterherpfeift<br />
oder Straftaten begeht wie<br />
mutmaßlich Harvey Weinstein.<br />
Himmelreich: Ja, sicher. Weinstein ist ein<br />
extremer Fall und weit schlimmer als das,<br />
was viele im Alltag erleben. Aber die Wurzel<br />
des Problems ist dieselbe: Sexismus in<br />
einer ungleichen Gesellschaft. Solange<br />
rund 70 Prozent aller Führungspositionen<br />
in deutschen Unternehmen mit Männern<br />
besetzt sind, solange der Anteil an weib -<br />
lichen Bundestagsabgeordneten so niedrig<br />
ist, solange in deutschen Film- und Fernsehproduktionen<br />
Männer deutlich über -<br />
repräsentiert sind, wie eine Studie im<br />
Auftrag der MaLisa-Stiftung von Maria<br />
Furtwängler neulich nachgewiesen hat, so<br />
lange haben wir keine gleichberechtigte<br />
Gesellschaft.