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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Deutschland<br />

SPIEGEL: Herr Fischer, schon im Jahr 2005<br />

war Jamaika rechnerisch möglich. Als Sie<br />

damals danach gefragt wurden, mussten<br />

Sie an Angela Merkel und Guido Westerwelle<br />

mit Dreadlocks und einem Joint in<br />

der Hand denken und lachten nur: „Wie<br />

soll das gehen, im Ernst, ich meine, bitte.“<br />

Und heute?<br />

Fischer: Es gilt der alte Bob-Dylan-Song:<br />

„The times they are a-changin’“, die Zeiten<br />

ändern sich. Wir sind ein paar Jahre weiter,<br />

und das, was ich damals – vielleicht auch<br />

nur mangels Fantasie – für unmöglich hielt,<br />

ist heute eine Notwendigkeit geworden.<br />

So kann’s gehen.<br />

SPIEGEL: Was hat sich denn so grundlegend<br />

geändert?<br />

Fischer: Spätestens seit 2015 und dem Ankommen<br />

der Flüchtlinge ist klar, dass die<br />

Zeit des sich immer mehrenden Sonnenscheins<br />

über unserem lieben Vaterland zu<br />

Ende geht. Die großen Probleme des 21.<br />

Jahrhunderts klopfen an unsere Tür. Das<br />

gilt auch für die dramatischen Veränderungen,<br />

die wir global unter anderem beim<br />

Brexit und bei der Wahl von Donald<br />

Trump sehen. Man kann die Menschen<br />

nicht gewinnen, indem man schweigt und<br />

abwartet, wie Angela Merkel es versucht<br />

hat. Die Menschen wollen – im besten Sinne<br />

des Wortes – Führung.<br />

SPIEGEL: Jamaika soll mit Führung punkten?<br />

Es wird eher auf den kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner hinauslaufen.<br />

Fischer: Die Verantwortlichen werden in<br />

die Situation kommen, dass sie führen müssen.<br />

Schon allein, weil die Verhältnisse<br />

heute sind, wie sie sind. <strong>Der</strong> Druck der<br />

Realitäten, wie das so schön heißt, wird<br />

enorm werden. Wir haben das schon damals<br />

bei Rot-Grün erlebt: Wir waren noch<br />

nicht im Amt, da war die Frage des Kosovokriegs<br />

bereits zu beantworten. Und<br />

dann kamen noch die Anschläge vom 11.<br />

September.<br />

SPIEGEL: Welche Punkte müssen die Grünen<br />

in einer Koalition mit Union und FDP<br />

unbedingt durchsetzen?<br />

Fischer: Ich verweise auf diejenigen, die in<br />

der Verantwortung sind, die können Ihnen<br />

das sagen. Durch den Zwang zur Einigung,<br />

den ich eben beschrieben habe, werden<br />

sich alle bewegen müssen, nicht nur wir,<br />

sondern auch FDP, CDU und vor allem<br />

CSU. Die ist übrigens ein echter Faktor<br />

der Instabilität bei Jamaika. Das macht<br />

mir die größten Sorgen.<br />

SPIEGEL: Sie sehen kein inhaltliches Thema,<br />

das für die Grünen essenziell wäre?<br />

Fischer: Doch, ich nehme an, da gibt es einige.<br />

Aber das ist Sache der gewählten<br />

Gremien und der Partei. Die Zukunft der<br />

deutschen Automobilindustrie steht zum<br />

Beispiel konkret auf dem Spiel. Werden<br />

wir den Umbruch, den die Elektrifizierung<br />

mit sich bringt, gestalten oder erleiden?<br />

Wir sind das Automobilland. Wenn wir es<br />

nicht schaffen, hier technologisch an der<br />

Spitze zu bleiben, wird es bitter. Das ist<br />

eine der entscheidenden Fragen, was Arbeitsplätze,<br />

Einkommen, Wohlstand angeht,<br />

nicht nur für ein paar Reiche oder<br />

Superreiche, sondern für sehr, sehr viele<br />

Menschen.<br />

SPIEGEL: Wäre es richtig, ab 2030 keine Verbrennungsmotoren<br />

mehr zuzulassen?<br />

Fischer: Über das Jahr kann und wird man<br />

streiten. Aber wir müssen etwas tun, sonst<br />

versündigen wir uns an der Zukunft unseres<br />

Landes. Die Industrie weiß das und<br />

wird deshalb handeln. Was passiert, wenn<br />

China wie angekündigt ein Datum setzt?<br />

Dann hinken wir hinterher. Es wäre doch<br />

wesentlich besser, wenn sich die deutsche<br />

Automobilindustrie und unser Land an der<br />

Spitze dieser Entwicklung bewegen würden.<br />

Und da könnte Jamaika wirklich eine<br />

Chance sein, weil die Grünen mit Union<br />

und FDP eine Lösung finden könnten, und<br />

zwar nicht gegen die Wirtschaft, sondern<br />

für die Mobilität von morgen, für die Menschen<br />

und die Umwelt.<br />

SPIEGEL: Sie klingen wie Cem Özdemir. Telefonieren<br />

Sie öfter, lässt er sich von Ihnen<br />

beraten?<br />

Fischer: Wir telefonieren dann und wann.<br />

Wenn ich so klinge, zeigt das doch, dass<br />

vernünftige Leute zu ähnlichen Schlussfolgerungen<br />

kommen, wenn sie die Fakten<br />

zur Kenntnis nehmen und drüber nachdenken.<br />

Darauf gibt es kein Copyright.<br />

SPIEGEL: Zu den Fakten gehört auch, dass<br />

die Grünen bei der jüngsten Bundes -<br />

tagswahl nur auf dem sechsten Platz gelandet<br />

sind. Laut Infratest dimap sind allein<br />

170 000 Grünenwähler zu den Linken<br />

abgewandert. Haben Sie keine Sorge, dass<br />

Jamaika die Grünen zerreißt?<br />

Fischer: Habe ich nicht. Die Partei macht<br />

einen geschlossenen Eindruck. Sollen die<br />

Grünen nicht regieren aus Sorge, dass<br />

Wähler zu anderen Parteien gehen könnten?<br />

Es ist andersherum: Die Grünen würden<br />

viele Wähler verlieren, wenn sie sich<br />

kategorisch verweigerten.<br />

SPIEGEL: So eindeutig ist das nicht. In Österreich<br />

haben sich die Grünen gespalten. <strong>Der</strong><br />

frühere Parteichef Peter Pilz hat mit einem<br />

dezidierten Linkskurs den Sprung ins Parlament<br />

geschafft. Die Realpolitiker der<br />

Grünen sind draußen. Wie wollen Sie in<br />

einer Jamaikakoalition linke Grünenwähler<br />

bei der Stange halten?<br />

Fischer: Österreich ist doch ein warnendes<br />

Beispiel. Da sitzt jetzt eine Gruppe mit etwas<br />

mehr als vier Prozent im Parlament<br />

und ist völlig machtlos. Und die Rechten<br />

regieren! Gemeinsam hätten die Grünen<br />

acht Prozent gehabt. Natürlich wird Jamaika<br />

für die Partei eine große Herausforderung.<br />

Aber man kann sich die Herausforderungen<br />

nicht aussuchen. Nach Lage der<br />

Dinge will aktuell keine Partei Jamaika,<br />

aber alle müssen, weil das Volk so gewählt<br />

hat. Außer einer Minderheitsregierung<br />

oder Neuwahlen gibt es keine Alternative.<br />

SPIEGEL: Die schließen Sie aus?<br />

Fischer: Wer will denn die Verantwortung<br />

für Neuwahlen übernehmen? Die würden<br />

mit einem noch besseren AfD-Ergebnis<br />

und womöglich wieder unklaren Mehrheiten<br />

enden.<br />

SPIEGEL: Welche Ministerien sollten die<br />

Grünen in einer Jamaikakoalition beanspruchen?<br />

Fischer: Das entscheide nicht ich. Dazu nur<br />

eine Bemerkung aus eigener Erfahrung: Es<br />

geht natürlich immer um die Sache, gerade<br />

bei den Grünen. Es gibt aber neben der<br />

Sachfrage ein weiteres wichtiges Element,<br />

das ist die Machtfrage. Die darf man nicht<br />

unterschätzen, auch im Interesse der Stabilität<br />

einer möglichen Koalition.<br />

SPIEGEL: Was hat das mit der Ressortverteilung<br />

zu tun?<br />

Fischer: Wenn die beiden anderen Koalitionspartner<br />

über mächtige Ressorts verfügen,<br />

wäre es keine gute Idee, wenn die<br />

Grünen nicht ebenfalls ein wichtiges klassisches<br />

Ressort übernähmen. Sonst haben<br />

sie es mit dem Kanzleramt zu tun, dem Finanzministerium<br />

und dem Innenministerium.<br />

Alles große, klassische Ressorts, die<br />

im Zentrum der Regierungsmacht zu Hause<br />

sind. Das gilt es zu bedenken.<br />

SPIEGEL: War das gerade vom ehemaligen<br />

Außenminister das Plädoyer dafür, dass<br />

die Grünen das Außenministerium beanspruchen<br />

sollten?<br />

Fischer: Ich sage nur, dass die Grünen bedenken<br />

sollten, dass sie auch in der Machtfrage<br />

präsent sein müssen.<br />

SPIEGEL: Halten Sie das Außenministerium<br />

nach wie vor für ein mächtiges Ressort?<br />

Fischer: Eindeutig ja. Das Außenministerium<br />

ist nach wie vor sehr wichtig.<br />

SPIEGEL: Als einer der Gründe für den<br />

Aufstieg der AfD gilt die mangelnde Unterscheidbarkeit<br />

der Parteien. Wird das<br />

Problem nicht noch verschärft, wenn in<br />

Zukunft Union, Grüne und FDP in einer<br />

Regierung sind?<br />

Fischer: Keine Sorge, die Parteien werden<br />

sehr unterscheidbar bleiben. Selbst unter<br />

Rot-Grün etwa gab es bestimmt kein Unterscheidbarkeitsdefizit.<br />

Damals wurde<br />

doch immer gesagt: Mein Gott, sind die<br />

chaotisch. In der Großen Koalition war es<br />

den Journalisten dann auf einmal zu ruhig.<br />

SPIEGEL: Mit der AfD sitzt jetzt eine rechtspopulistische<br />

Partei im Bundestag. Ist das<br />

eine politische Zeitenwende?<br />

Fischer: Wieso rechtspopulistisch? Wie nennen<br />

wir in Deutschland eine Partei, die<br />

sich völkisch definiert? Die Tradition ist<br />

eindeutig. Die Letzten, die eine solche Position<br />

vertreten haben, waren die Nazis.<br />

SPIEGEL: Sie halten die AfD für eine Partei<br />

in der Tradition der NSDAP?<br />

Fischer: Oh ja! Ich bin ja in den Fünfzigerjahren<br />

aufgewachsen. Alle in meiner Ge-<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

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