20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Romancier Houellebecq: „Nicht Teil des Geschäfts der Meinungsproduktion“<br />
TIM WEGNER / DER SPIEGEL<br />
sie sich selbst nicht trauen. Sie sind überzeugt,<br />
dass sie ohne den Euro und seine<br />
Sicherheit im Schlamassel versinken werden,<br />
dass die Schulden ihnen über den<br />
Kopf wachsen. Sie betrachten sich nicht<br />
als fähige Haushälter, und vielleicht stimmt<br />
das ja auch, die Zahlen scheinen es zu bestätigen.<br />
Es ist eine unsinnige Haltung: Sie<br />
wollen den Euro, aber am liebsten ohne<br />
die Zwänge, die mit ihm einhergehen.<br />
SPIEGEL: Worin gründet die Faszination, die<br />
Macron über Frankreich hinaus ausübt?<br />
Houellebecq: Er ist ein seltsamer Mensch. Ich<br />
habe ihn einmal interviewt, als er noch Finanzminister<br />
war, bevor seine Sammlungsbewegung<br />
„En Marche!“ richtig in Gang<br />
gekommen war. Und am Ende dieses Gesprächs<br />
fand ich ihn immer noch genau so<br />
seltsam, irgendwie ungreifbar. Man versteht<br />
nicht wirklich, was er denkt. Er lässt sich<br />
nicht entschlüsseln. Man kann ihm keine klar<br />
formulierte Überzeugung entlocken. Mein<br />
Eindruck ist, dass er sich auf seinen eigenen<br />
Optimismus reduziert. Er hypnotisiert sich<br />
selbst und im selben Zug fast das ganze Land.<br />
Insofern war seine Wahlkampagne eine Ansteckungskampagne.<br />
Atemberaubend!<br />
SPIEGEL: Kann er damit Frankreich und der<br />
EU wirklich neuen Schwung einhauchen,<br />
zusammen mit der drögen Frau Merkel,<br />
die sich gegen Visionen sträubt?<br />
Houellebecq: Ich bezweifle es. Die depressive<br />
Stimmung kommt von der Allgegenwart<br />
der Ökonomie, der erdrückenden<br />
124 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
Übermacht wirtschaftlicher Rationalität.<br />
Dafür steht Deutschland, auch im Denken<br />
von Macron. Die Ökonomie macht aber<br />
nicht glücklich. Man wird umso unglück -<br />
licher, je mehr man an sie denkt. Europa<br />
hat ein sentimentales Problem. Es löst<br />
kaum noch positive Emotionen aus.<br />
SPIEGEL: Wie also weiter?<br />
Houellebecq: Macron probiert es mit Grandezza,<br />
er ruft Europa auf: Mir nach! <strong>Der</strong><br />
Versuch lohnt sich. Immer weniger Franzosen<br />
erinnern sich an Charles de Gaulle,<br />
aber die Nostalgie des Gaullismus ist ihnen<br />
geblieben. Eine gewisse Höhe der politischen<br />
Führung, ein bisschen Großsprecherei,<br />
republikanischer Glanz, das gefällt, damit<br />
kann man verführen.<br />
SPIEGEL: Und Deutschland?<br />
Houellebecq: Wie ich schon sagte, die Deutschen<br />
lieben ihre eigenen Vorzüge nicht, zu<br />
Unrecht. Dass Deutschland jetzt eine rechtsextreme<br />
Partei im Parlament hat, beweist,<br />
dass es beginnt, in Europa ganz normal zu<br />
werden, mit normalen Sorgen und Interessen.<br />
Man könnte fast sagen, dass das eine gute<br />
Nachricht ist. Die Deutschen werden doch<br />
nicht 300 Jahre in Sack und Asche gehen!<br />
SPIEGEL: So könnte auch die AfD reden.<br />
Houellebecq: Daran ist nichts Gefährliches,<br />
jedenfalls nicht mehr und nicht weniger<br />
als anderswo.<br />
SPIEGEL: Macron hat mit seiner Wahl eine<br />
breite, neue bürgerliche Mitte konstituiert.<br />
Zugleich beginnt sich der Widerstand gegen<br />
seine Reformpolitik zu verstärken.<br />
Steht Frankreich an einem Wendepunkt?<br />
Houellebecq: Die Linke liegt jedenfalls im<br />
Sterben, ihre Ideen sind tot, trotz eines<br />
Volkstribuns wie Mélenchon und seiner<br />
unbestreitbaren Wortgewalt. Die Wahrheit<br />
ist, dass es in Frankreich nur noch die Rechte<br />
und die extreme Rechte gibt. Die Linke<br />
hat ihre Mobilisierungskraft verloren.<br />
SPIEGEL: Auch unter den Intellektuellen, unter<br />
denen der Marxismus bis in die jüngste<br />
Zeit quicklebendig war?<br />
Houellebecq: Übrig geblieben ist nur noch<br />
ein Altlinker wie Alain Badiou. Das ist alles.<br />
Die Wiese ist abgegrast.<br />
SPIEGEL: Und Didier Eribon, der in Deutschland<br />
einen großen Erfolg mit seiner „Rückkehr<br />
nach Reims“ erzielt hat und erklärt,<br />
dass Macron nicht sein Präsident sei?<br />
Houellebecq: Ach ja, ich hätte fast vergessen,<br />
dass es ihn auch noch gibt. In der Tat.<br />
SPIEGEL: Haben Sie ihn gelesen?<br />
Houellebecq: Nein. Ich habe den Marxismus<br />
sterben sehen. Ich habe immer gesagt, dass<br />
Romane die Welt nicht verändern können.<br />
Aber Solschenizyns „Archipel Gulag“ von<br />
1973 hat die Welt verändert. Das Buch war<br />
ein Donnerschlag in Frankreich. Für den<br />
Marxismus läutete das Sterbeglöcklein.<br />
SPIEGEL: Frankreich galt lange als nicht<br />
reformierbar. Kann Macron wirklich das<br />
Gegenteil beweisen?<br />
Houellebecq: Ich glaube schon. Es gibt noch<br />
Klassen in Frankreich, aber der Klassen-