20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Kultur<br />
Philosoph Habermas<br />
Als Linker bin ich<br />
kein „Macronist“,<br />
wenn es so<br />
etwas gibt. Aber<br />
wie er über Europa<br />
spricht, macht<br />
einen Unterschied.<br />
ARNE DEDERT / DPA<br />
zu Tag reagierenden Schicht politischer Funktionäre heraus.<br />
Man reibt sich die Augen: Da ist jemand, der am<br />
Status quo noch etwas ändern will? Da hat jemand den<br />
frivolen Mut, sich gegen das fatalistische Bewusstsein von<br />
Fellachen aufzulehnen, die sich den vermeintlich zwingenden<br />
systemischen Imperativen einer in abgehobenen<br />
internationalen Organisationen verkörperten Weltwirtschaftsordnung<br />
gedankenlos beugen?<br />
Wenn ich ihn recht verstehe, bringt Macron ein Interesse<br />
zur Geltung, das bisher in unserem Parteiensystem zwischen<br />
dem alltäglichen Neoliberalismus der „Mitte“, dem<br />
selbstzufriedenen Antikapitalismus der Linksnationalisten<br />
sowie der abgestandenen identitären Ideologie der Rechtspopulisten<br />
nicht ausbuchstabiert und daher nicht repräsentiert<br />
ist. Es gehört zum Versagen der Sozialdemokratie,<br />
dass eine im Grundsatz globalisierungsfreundliche, europa -<br />
politisch vorwärtstreibende Politik, die gleichzeitig die<br />
sozialen Zerstörungen eines entfesselten Kapitalismus im<br />
Blick behält und daher auch auf die notwendige transnationale<br />
Reregulierung wichtiger Märkte drängt, trotz einiger<br />
Bemühungen von Sigmar Gabriel kein erkennbares<br />
Profil gewonnen hat. Den Ellbogenspielraum für die Profilierung<br />
einer solchen Politik hätte Gabriel wohl erst als<br />
Finanzminister einer fortgesetzten und Macron entgegenkommenden<br />
Großen Koalition erhalten können.<br />
<strong>Der</strong> zweite Umstand, durch den Macron sich von anderen<br />
Figuren unterscheidet, ist der Bruch mit einem stillschweigenden<br />
Konsens. In der politischen Klasse verstand<br />
es sich bis jetzt von selbst, dass das Europa der Bürger<br />
ein viel zu komplexes Gebilde<br />
ist und dass die finalité, das Ziel<br />
der europäischen Einigung, eine<br />
viel zu komplizierte Frage ist,<br />
als dass man die Bürger selbst<br />
damit befassen dürfte. Die laufenden<br />
Geschäfte der Brüsseler<br />
Politik sind nur etwas für Experten<br />
und allenfalls für die gut informierten<br />
Lobbyisten; während<br />
die Regierungschefs die<br />
ernsteren Konflikte zwischen<br />
aufeinanderstoßenden nationalen<br />
Interessen unter sich, in der<br />
Regel durch Aufschieben oder<br />
Ausklammern, beilegen. Vor allem<br />
aber besteht zwischen den<br />
politischen Parteien Einverständnis<br />
darüber, dass in nationalen<br />
Wahlen europäische Themen<br />
tunlichst zu vermeiden<br />
sind, es sei denn, dass sich die<br />
hausgemachten Probleme auf<br />
die Schultern Brüsseler Bürokraten<br />
abschieben lassen. Und nun<br />
will Macron mit dieser mauvaise<br />
foi aufräumen. Er hat ein Tabu bereits damit gebrochen,<br />
dass er die Reform Europas in den Mittelpunkt seiner<br />
Kampagne gerückt und diese Offensive, ein Jahr nach<br />
dem Brexit, gegen „die traurigen Leidenschaften“ Europas<br />
sogar gewonnen hat.<br />
Dieser Umstand verleiht dem oft gehörten Satz, dass<br />
die Demokratie das Wesen des europäischen Projektes<br />
sei, in seinem Munde Glaubwürdigkeit. Die Umsetzung<br />
seiner angekündigten politischen Reformen in Frankreich<br />
kann ich nicht beurteilen. Es wird sich zeigen müssen, ob<br />
er das „sozialliberale“ Versprechen, die schwierige Balance<br />
zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher<br />
Produktivität einzuhalten, einlöst. Als Linker bin ich kein<br />
„Macronist“, wenn es so etwas gibt. Aber wie er über Eu -<br />
ropa spricht, macht einen Unterschied. Er wirbt um Verständnis<br />
für die Gründungsväter, die Europa ohne die Bevölkerung<br />
erschaffen hätten, weil sie einer aufgeklärten<br />
Avantgarde angehörten; er selbst will aber nun aus dem<br />
Elite- ein Bürgerprojekt machen und fordert naheliegende<br />
Schritte zur demokratischen Selbstermächtigung der europäischen<br />
Bürger gegen die nationalen Regierungen, die<br />
sich im Europäischen Rat gegenseitig blockieren. So fordert<br />
er für die Europawahlen nicht nur ein allgemeines<br />
Wahlrecht, sondern auch eine Kandidatenaufstellung nach<br />
länderübergreifenden Parteilisten. Das befördert nämlich<br />
die Ausbildung eines europäischen Parteiensystems, ohne<br />
das aus dem Straßburger Parlament kein Ort werden kann,<br />
wo gesellschaftliche Interessen über die Grenzen der jeweils<br />
eigenen Nation hinweg verallgemeinert und zur Geltung<br />
gebracht werden können.<br />
Wenn man die Bedeutung von Emmanuel Macron<br />
richtig einschätzen will, kommt noch ein dritter<br />
Aspekt in Betracht, eine persönliche Eigenschaft:<br />
Er kann reden. Es handelt sich in seinem Fall nicht nur<br />
um einen Politiker, der sich durch seine rhetorische Begabung<br />
und die Sensibilität für das geschrieben Wort Aufmerksamkeit,<br />
Ansehen und Einfluss erwirbt. Vielmehr<br />
verleiht die genaue Wahl seiner inspirierenden Sätze und<br />
die Artikulationskraft der Rede dem politischen Gedanken<br />
selbst analytische Schärfe und eine ausholende Perspektive.<br />
Norbert Lammert war bei uns der Letzte, der Erinnerungen<br />
an die großen Bundestagsdebatten von Gustav<br />
Heinemann, Adolf Arndt und Fritz Erler in der frühen<br />
Bundesrepublik geweckt hat. Natürlich bemisst sich die<br />
Qualität der Ausübung des Politikerberufs nicht am rednerischen<br />
Talent. Aber Reden können die Wahrnehmung<br />
der Politik in der Öffentlichkeit verändern, das Niveau<br />
heben und den Horizont einer öffentlichen Debatte erweitern.<br />
Und damit auch die Qualität nicht nur der politischen<br />
Willensbildung, sondern des politischen Handelns<br />
selber.<br />
Wo die Formlosigkeit der Talkshows zum Maßstab für<br />
Komplexität und Atemlänge des öffentlich zulässigen<br />
politischen Gedankens wird, fällt Macron durch das Format<br />
seiner Reden auf. Anscheinend fehlt uns die Wahrnehmungsfähigkeit<br />
für solche Qualitäten, sogar für das<br />
Wann und Wo einer Rede. So war die Rede, die Macron<br />
vor Kurzem im Rathaus von Paris aus Anlass des Reformationsjubiläums<br />
gehalten hat, nicht nur inhaltlich interessant;<br />
sie war nicht nur ein geschickter Versuch, den<br />
Rückblick auf die Geschichte der Konfessionskämpfe in<br />
Frankreich zur Anpassung einer Staatsdoktrin, des strengen<br />
französischen Laizismus, an die Anforderungen einer<br />
pluralistischen Gesellschaft zu nutzen. Anlass und Thema<br />
der Rede waren zugleich eine Geste an die protestantisch<br />
geprägte Kultur des Nachbarlandes – und an die evangelische<br />
Kollegin in Berlin.<br />
Natürlich sind uns Anspruch und Stil, staatliche Macht<br />
zu repräsentieren, spätestens seit dem nostalgischen Blick<br />
eines Carl Schmitt auf die französische Gegenaufklärung<br />
im 19. Jahrhundert fremd geworden. Uns mag der Sinn<br />
für die Gravitas eines Lebens im Élysée-Palast fehlen, den<br />
Macron im SPIEGEL-Gespräch hochhält. Aber die intimere<br />
Kenntnis der hegelschen Geschichtsphilosophie, mit der<br />
er auf die Frage nach Napoleon als dem „Weltgeist zu<br />
Pferde“ reagiert, ist dann doch wieder eindrucksvoll. ■<br />
136 DER SPIEGEL 43 / 2017