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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Kultur<br />

Philosoph Habermas<br />

Als Linker bin ich<br />

kein „Macronist“,<br />

wenn es so<br />

etwas gibt. Aber<br />

wie er über Europa<br />

spricht, macht<br />

einen Unterschied.<br />

ARNE DEDERT / DPA<br />

zu Tag reagierenden Schicht politischer Funktionäre heraus.<br />

Man reibt sich die Augen: Da ist jemand, der am<br />

Status quo noch etwas ändern will? Da hat jemand den<br />

frivolen Mut, sich gegen das fatalistische Bewusstsein von<br />

Fellachen aufzulehnen, die sich den vermeintlich zwingenden<br />

systemischen Imperativen einer in abgehobenen<br />

internationalen Organisationen verkörperten Weltwirtschaftsordnung<br />

gedankenlos beugen?<br />

Wenn ich ihn recht verstehe, bringt Macron ein Interesse<br />

zur Geltung, das bisher in unserem Parteiensystem zwischen<br />

dem alltäglichen Neoliberalismus der „Mitte“, dem<br />

selbstzufriedenen Antikapitalismus der Linksnationalisten<br />

sowie der abgestandenen identitären Ideologie der Rechtspopulisten<br />

nicht ausbuchstabiert und daher nicht repräsentiert<br />

ist. Es gehört zum Versagen der Sozialdemokratie,<br />

dass eine im Grundsatz globalisierungsfreundliche, europa -<br />

politisch vorwärtstreibende Politik, die gleichzeitig die<br />

sozialen Zerstörungen eines entfesselten Kapitalismus im<br />

Blick behält und daher auch auf die notwendige transnationale<br />

Reregulierung wichtiger Märkte drängt, trotz einiger<br />

Bemühungen von Sigmar Gabriel kein erkennbares<br />

Profil gewonnen hat. Den Ellbogenspielraum für die Profilierung<br />

einer solchen Politik hätte Gabriel wohl erst als<br />

Finanzminister einer fortgesetzten und Macron entgegenkommenden<br />

Großen Koalition erhalten können.<br />

<strong>Der</strong> zweite Umstand, durch den Macron sich von anderen<br />

Figuren unterscheidet, ist der Bruch mit einem stillschweigenden<br />

Konsens. In der politischen Klasse verstand<br />

es sich bis jetzt von selbst, dass das Europa der Bürger<br />

ein viel zu komplexes Gebilde<br />

ist und dass die finalité, das Ziel<br />

der europäischen Einigung, eine<br />

viel zu komplizierte Frage ist,<br />

als dass man die Bürger selbst<br />

damit befassen dürfte. Die laufenden<br />

Geschäfte der Brüsseler<br />

Politik sind nur etwas für Experten<br />

und allenfalls für die gut informierten<br />

Lobbyisten; während<br />

die Regierungschefs die<br />

ernsteren Konflikte zwischen<br />

aufeinanderstoßenden nationalen<br />

Interessen unter sich, in der<br />

Regel durch Aufschieben oder<br />

Ausklammern, beilegen. Vor allem<br />

aber besteht zwischen den<br />

politischen Parteien Einverständnis<br />

darüber, dass in nationalen<br />

Wahlen europäische Themen<br />

tunlichst zu vermeiden<br />

sind, es sei denn, dass sich die<br />

hausgemachten Probleme auf<br />

die Schultern Brüsseler Bürokraten<br />

abschieben lassen. Und nun<br />

will Macron mit dieser mauvaise<br />

foi aufräumen. Er hat ein Tabu bereits damit gebrochen,<br />

dass er die Reform Europas in den Mittelpunkt seiner<br />

Kampagne gerückt und diese Offensive, ein Jahr nach<br />

dem Brexit, gegen „die traurigen Leidenschaften“ Europas<br />

sogar gewonnen hat.<br />

Dieser Umstand verleiht dem oft gehörten Satz, dass<br />

die Demokratie das Wesen des europäischen Projektes<br />

sei, in seinem Munde Glaubwürdigkeit. Die Umsetzung<br />

seiner angekündigten politischen Reformen in Frankreich<br />

kann ich nicht beurteilen. Es wird sich zeigen müssen, ob<br />

er das „sozialliberale“ Versprechen, die schwierige Balance<br />

zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher<br />

Produktivität einzuhalten, einlöst. Als Linker bin ich kein<br />

„Macronist“, wenn es so etwas gibt. Aber wie er über Eu -<br />

ropa spricht, macht einen Unterschied. Er wirbt um Verständnis<br />

für die Gründungsväter, die Europa ohne die Bevölkerung<br />

erschaffen hätten, weil sie einer aufgeklärten<br />

Avantgarde angehörten; er selbst will aber nun aus dem<br />

Elite- ein Bürgerprojekt machen und fordert naheliegende<br />

Schritte zur demokratischen Selbstermächtigung der europäischen<br />

Bürger gegen die nationalen Regierungen, die<br />

sich im Europäischen Rat gegenseitig blockieren. So fordert<br />

er für die Europawahlen nicht nur ein allgemeines<br />

Wahlrecht, sondern auch eine Kandidatenaufstellung nach<br />

länderübergreifenden Parteilisten. Das befördert nämlich<br />

die Ausbildung eines europäischen Parteiensystems, ohne<br />

das aus dem Straßburger Parlament kein Ort werden kann,<br />

wo gesellschaftliche Interessen über die Grenzen der jeweils<br />

eigenen Nation hinweg verallgemeinert und zur Geltung<br />

gebracht werden können.<br />

Wenn man die Bedeutung von Emmanuel Macron<br />

richtig einschätzen will, kommt noch ein dritter<br />

Aspekt in Betracht, eine persönliche Eigenschaft:<br />

Er kann reden. Es handelt sich in seinem Fall nicht nur<br />

um einen Politiker, der sich durch seine rhetorische Begabung<br />

und die Sensibilität für das geschrieben Wort Aufmerksamkeit,<br />

Ansehen und Einfluss erwirbt. Vielmehr<br />

verleiht die genaue Wahl seiner inspirierenden Sätze und<br />

die Artikulationskraft der Rede dem politischen Gedanken<br />

selbst analytische Schärfe und eine ausholende Perspektive.<br />

Norbert Lammert war bei uns der Letzte, der Erinnerungen<br />

an die großen Bundestagsdebatten von Gustav<br />

Heinemann, Adolf Arndt und Fritz Erler in der frühen<br />

Bundesrepublik geweckt hat. Natürlich bemisst sich die<br />

Qualität der Ausübung des Politikerberufs nicht am rednerischen<br />

Talent. Aber Reden können die Wahrnehmung<br />

der Politik in der Öffentlichkeit verändern, das Niveau<br />

heben und den Horizont einer öffentlichen Debatte erweitern.<br />

Und damit auch die Qualität nicht nur der politischen<br />

Willensbildung, sondern des politischen Handelns<br />

selber.<br />

Wo die Formlosigkeit der Talkshows zum Maßstab für<br />

Komplexität und Atemlänge des öffentlich zulässigen<br />

politischen Gedankens wird, fällt Macron durch das Format<br />

seiner Reden auf. Anscheinend fehlt uns die Wahrnehmungsfähigkeit<br />

für solche Qualitäten, sogar für das<br />

Wann und Wo einer Rede. So war die Rede, die Macron<br />

vor Kurzem im Rathaus von Paris aus Anlass des Reformationsjubiläums<br />

gehalten hat, nicht nur inhaltlich interessant;<br />

sie war nicht nur ein geschickter Versuch, den<br />

Rückblick auf die Geschichte der Konfessionskämpfe in<br />

Frankreich zur Anpassung einer Staatsdoktrin, des strengen<br />

französischen Laizismus, an die Anforderungen einer<br />

pluralistischen Gesellschaft zu nutzen. Anlass und Thema<br />

der Rede waren zugleich eine Geste an die protestantisch<br />

geprägte Kultur des Nachbarlandes – und an die evangelische<br />

Kollegin in Berlin.<br />

Natürlich sind uns Anspruch und Stil, staatliche Macht<br />

zu repräsentieren, spätestens seit dem nostalgischen Blick<br />

eines Carl Schmitt auf die französische Gegenaufklärung<br />

im 19. Jahrhundert fremd geworden. Uns mag der Sinn<br />

für die Gravitas eines Lebens im Élysée-Palast fehlen, den<br />

Macron im SPIEGEL-Gespräch hochhält. Aber die intimere<br />

Kenntnis der hegelschen Geschichtsphilosophie, mit der<br />

er auf die Frage nach Napoleon als dem „Weltgeist zu<br />

Pferde“ reagiert, ist dann doch wieder eindrucksvoll. ■<br />

136 DER SPIEGEL 43 / 2017

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