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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Kahler Krempling<br />

Leitkultur Alexander Osang über seine<br />

kleine deutsche Heimat<br />

Gesammelte Pilze<br />

Vielleicht liegt es am Alter, aber ich mag den deutschen<br />

Herbst. In meiner Jugend kannte ich eigentlich<br />

nur zwei akzeptable Jahreszeiten: Sommer<br />

und Winter. Jetzt, da es langsam dunkel wird, entdecke<br />

ich die Grautöne. Zum ersten Mal bemerkte ich das vor<br />

gut zehn Jahren, in Amerika. Ich war mit einem Miet -<br />

wagen auf dem Weg von Cincinnati, wo ich einen Wahlkampfauftritt<br />

von Dick Cheney beobachtet hatte, nach<br />

Pittsburgh, wo die Dixie Chicks ein Konzert gegen George<br />

W. Bush spielten. Es war Ende September. Hinter der<br />

Grenze zu Pennsylvania, wo die Landschaft hügelig,<br />

herbstlich und deutsch ist, fuhr ich auf einen Parkplatz<br />

und rannte wie ein Mondsüchtiger in einen bunten Laubwald.<br />

Bestimmt war auch Dick<br />

Cheney schuld. Ich hüpfte zwischen<br />

den Bäumen umher und<br />

fühlte mich zu Hause. Heimatlich.<br />

Ich war kurz davor, einen Baum<br />

zu umarmen, weil er mir wie ein<br />

Landsmann vorkam.<br />

So geht es den Grünen zurzeit.<br />

Sie versuchen, das Wort Heimat<br />

in ihre politischen Konzepte zu integrieren,<br />

auch um es der AfD wegzunehmen.<br />

Die Reaktionen auf diese<br />

Versuche klingen, als wollte Katrin<br />

Göring-Eckardt Deutschland<br />

in den Grenzen von 1937 zurück.<br />

Ich las ein Interview mit einer<br />

Psychologin, in dem der deutsche<br />

Heimatbegriff auseinandergenommen<br />

wurde. Die Franzosen, lernte<br />

ich, verbinden Heimat vor allem<br />

mit Bürgersinn, wir Deutschen mit<br />

Gebiet. Bei mir läuft, sobald ich<br />

das Wort Heimat höre, ein Lied im Kopf ab, das ich als<br />

Junge gesungen habe. Es fängt so an: „Uns’re Heimat, das<br />

sind nicht nur die Städte und Dörfer, uns’re Heimat sind<br />

auch all die Bäume im Wald.“ Es gibt, je länger das Lied<br />

geht, immer mehr Heimat – Fische, Vögel, das Korn auf<br />

dem Feld –, und am Ende wird der Deckel draufgemacht:<br />

„Wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört.“ Auch die<br />

deutschen Kommunisten waren da sehr deutsch. Zusammen<br />

mit dem Volksmusikfernsehen, dem Einheitsfeuerwerk und<br />

dem ständigen Zwang, die nächste deutsche Hymne mitsingen<br />

zu müssen, führte das irgendwann dazu, dass meine<br />

Heimat immer kleiner wurde, bis ich mich im Death Valley<br />

mehr zu Hause fühlte als in Berlin-Mitte.<br />

Wie Jürgen Trittin muss ich noch mal ganz von vorn<br />

anfangen. Klein. Nicht gleich mit dem Wald, nicht mal<br />

mit dem Baum. Vielleicht mit dem Pilz.<br />

In meiner Kindheit war ich oft Pilze sammeln. Es ging<br />

eher ums Sammeln als ums Essen. Als Kind habe ich Pilzgerichte<br />

gehasst, sie sahen matschig aus und schmeckten<br />

auch so. Aber das Sammeln machte Spaß. Als Jugend -<br />

licher verlor ich den Waldpilz aus den Augen, dann fiel<br />

die Mauer, und man musste nichts mehr sammeln, man<br />

konnte alles kaufen. Auch Pilze. In einem Sommerhaus<br />

in den Hamptons entdeckte ich 2005 hinter Büchern zwei<br />

Gefrierbeutel mit Psychopilzen. Das war für etwa 20 Jahre<br />

mein einziger Pilzfund. Aber die Sammelgene waren angelegt,<br />

und jetzt, da ich ein Wochenendgrundstück in<br />

Brandenburg besitze, bricht sich die Natur Bahn.<br />

Ich kenne inzwischen Steinpilzstellen, über die ich mit<br />

niemandem rede. Ich unterteile Freunde in Sammler und<br />

Nichtsammler. Ich spüre eine Pilzsammlergrenze. Ich weiß<br />

nicht genau, wo sie verläuft, aber ich habe einen Verdacht.<br />

Neulich besuchte uns ein Paar in Brandenburg, er<br />

stammt aus dem Südwesten Deutschlands, sie aus dem<br />

Nordosten. Er sah nur den mythischen Wald, sie die Pfifferlinge.<br />

Ich habe bei einem Abendessen neben einer<br />

Münchner Schauspielerin gesessen, der beim Thema Pilze<br />

nur die Spätfolgen von Tschernobyl einfielen. Irgendwann<br />

kam sie von den Pilzen zu den Wildschweinen, die die<br />

Pilze äßen und nun ebenfalls ungenießbar seien. Da schaltete<br />

ich ab. Kürzlich war ein Berliner Koch hier draußen,<br />

der aus Frankfurt an der Oder stammt. Er betrat unseren<br />

Wald wie sein Wohnzimmer. Er schneidet Pilze an, um zu<br />

sehen, welche Farbe ihr Saft hat. Danach entscheidet er,<br />

ob man sie essen kann. Er ist ein<br />

Pilzschamane. Frankfurt (Oder)<br />

liegt im Osten, es ist praktisch<br />

Polen. In unserem Berliner Mietshaus<br />

wohnt ein älteres Ehepaar,<br />

das sich im Sommer leicht vergiftete,<br />

weil es Wein zu Tintlingen<br />

trank, Pilzen, die eher aussehen<br />

wie Fabelwesen. Beide stammen<br />

aus dem Baltikum. Am Wochenende<br />

erzählte mir ein Bekannter,<br />

dass er schöne Hallimasche gefunden<br />

habe. <strong>Der</strong> Mann ist Physiker,<br />

kommt aus dem nordöstlichen<br />

Brandenburg, hat eine russische<br />

Frau und besitzt heute eine tausendköpfige<br />

Rinderherde in der<br />

Nähe von Kaliningrad. In meinem<br />

kleinen Pilzbuch fand ich zum<br />

Hallimasch: roh giftig, zerstört<br />

Holz, schmeckt gekocht wie essigsaure<br />

Tonerde.<br />

Je weiter man nach Osten kommt, desto hemmungsloser<br />

wird die Liebe zum Pilz. <strong>Der</strong> Kahle Krempling ist gegart<br />

wohlschmeckend, kann aber noch Jahre nach seinem<br />

Genuss zu tödlichen Vergiftungen führen, so steht es in<br />

meinem DDR-Pilzführer. Mehr muss man über den wilden<br />

Osten nicht wissen. Kahler Krempling klingt fast wie ein<br />

westdeutsches Synonym für den Ostmann. Leute, die so<br />

was gegessen haben, wählen nicht zwangsläufig Volks -<br />

parteien.<br />

Mein neuer brandenburgischer Grundstücksnachbar<br />

stammt aus Illinois, wo der ehemalige Präsident Barack<br />

Obama seine politische Laufbahn begonnen hat. Auf seinem<br />

Grundstück wachsen die schönsten Steinpilze, die<br />

man sich vorstellen kann. Er will sie nicht. Er ist ein Mann<br />

aus dem Westen. Es wäre für ihn, als würde er Moos essen.<br />

Oder Erde. Nimm du sie, sagt er. Ich suche jetzt auf amerikanischem<br />

Boden in Ostdeutschland nach Steinpilzen.<br />

Näher war ich noch nie dran an meiner Heimat.<br />

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 59

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