20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Europas falsche Freunde<br />
Essay Wer die Nationen abschaffen will, fördert die Nationalisten.<br />
Von Heinrich August Winkler<br />
Pro-spanische Demonstranten in Barcelona: <strong>Der</strong> Staat als Hüter von Recht und Demokratie<br />
ETIENNE DE MALGLAIVE / GETTY IMAGES<br />
Ist Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission<br />
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den Jahren<br />
1958 bis 1967, wirklich der Vordenker der europäischen<br />
Sezessionisten, als der er neuerdings von einigen<br />
Autoren porträtiert wird? Drei mehr oder weniger gleichlautende<br />
Äußerungen werden ihm zugeschrieben. Erstens:<br />
„Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“<br />
Zweitens: „Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses<br />
ist die Überwindung der Nationalstaaten.“ Drittens: „Ziel<br />
ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation<br />
eines nachnationalen Europa.“<br />
In den Reden und Schriften Walter Hallsteins sind diese<br />
Aussagen nicht zu finden. Dennoch behaupten der österreichische<br />
Schriftsteller Robert Menasse, auf der Frankfurter<br />
Buchmesse soeben für seinen Brüssel-Roman „Die<br />
Hauptstadt“ mit dem Deutschen Buchpreis geehrt, seine<br />
deutsche Mitstreiterin, die Politologin Ulrike Guérot, und<br />
nun auch Jakob Augstein (SPIEGEL 42/2017), dass Hallstein<br />
sich so geäußert habe. Augstein, der das dritte Zitat offenbar<br />
von Menasse übernimmt, mit der Einschränkung,<br />
der Kommissionspräsident „solle“ dies gesagt haben.<br />
Leider sagen Menasse und Guérot nicht, wo sie die angeblich<br />
wörtlichen Zitate von Hallstein gefunden haben,<br />
und wir erfahren von ihnen auch nicht, wann, wo und in<br />
welchem Zusammenhang er sich so geäußert haben soll.<br />
Menasse erwähnt wohl zwei wichtige Reden des Europapolitikers,<br />
aber was Hallstein dort sagt, widerspricht dem,<br />
was sein Interpret ihm unterstellt. In seiner ersten Rede<br />
vor dem Europäischen Parlament beschrieb der Kommissionspräsident<br />
am 19. März 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />
als eine „Staatengemeinschaft mit<br />
starken föderativen Zügen“. Vor dem Europäischen Gemeindetag<br />
in Rom erteilte er zwar am 15. Oktober 1964<br />
der Idee der nationalstaatlichen Souveränität alten Stils<br />
„und der heutigen politischen Form der Nationen“ eine<br />
Absage, ebenso aber auch der Folgerung, „dass die be -<br />
stehende politische Ordnung ausgelöscht, durch einen<br />
europäischen Supranationalstaat ersetzt wird“. Es gehe<br />
vielmehr darum, die „Kraftquellen der Nationen zu erhalten,<br />
ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen“.<br />
Falls Guérot und Menasse sich auf Quellen stützen können,<br />
die der bisherigen Forschung nicht bekannt waren,<br />
sollten sie diese nennen. Solange es keine belastbaren Belege<br />
für die Hallstein zugeschriebenen Zitate gibt, müssen<br />
diese als apokryph, das heißt als unecht, gelten. Die Lesart<br />
vom post-, ja antinationalen EU-Vorkämpfer Hallstein<br />
dürfte eine Legende oder, anders gewendet, Ausfluss einer<br />
postfaktischen Geschichtsbetrachtung sein.<br />
Doch Hallstein hin oder her, auch ohne die problematische<br />
Berufung auf ihn gibt es genug Gründe, sich kritisch<br />
mit den Thesen von Menasse, Guérot und Augstein aus -<br />
einanderzusetzen. „Nationen haben sich bekriegt, Regionen<br />
haben gelitten, immer wieder ihre Eigenheiten bewahrt,<br />
Regionen sind die Herzwurzel der Identität“, heißt<br />
88 DER SPIEGEL 43 / 2017