Kultur Philosoph Habermas Als Linker bin ich kein „Macronist“, wenn es so etwas gibt. Aber wie er über Europa spricht, macht einen Unterschied. ARNE DEDERT / DPA zu Tag reagierenden Schicht politischer Funktionäre heraus. Man reibt sich die Augen: Da ist jemand, der am Status quo noch etwas ändern will? Da hat jemand den frivolen Mut, sich gegen das fatalistische Bewusstsein von Fellachen aufzulehnen, die sich den vermeintlich zwingenden systemischen Imperativen einer in abgehobenen internationalen Organisationen verkörperten Weltwirtschaftsordnung gedankenlos beugen? Wenn ich ihn recht verstehe, bringt Macron ein Interesse zur Geltung, das bisher in unserem Parteiensystem zwischen dem alltäglichen Neoliberalismus der „Mitte“, dem selbstzufriedenen Antikapitalismus der Linksnationalisten sowie der abgestandenen identitären Ideologie der Rechtspopulisten nicht ausbuchstabiert und daher nicht repräsentiert ist. Es gehört zum Versagen der Sozialdemokratie, dass eine im Grundsatz globalisierungsfreundliche, europa - politisch vorwärtstreibende Politik, die gleichzeitig die sozialen Zerstörungen eines entfesselten Kapitalismus im Blick behält und daher auch auf die notwendige transnationale Reregulierung wichtiger Märkte drängt, trotz einiger Bemühungen von Sigmar Gabriel kein erkennbares Profil gewonnen hat. Den Ellbogenspielraum für die Profilierung einer solchen Politik hätte Gabriel wohl erst als Finanzminister einer fortgesetzten und Macron entgegenkommenden Großen Koalition erhalten können. <strong>Der</strong> zweite Umstand, durch den Macron sich von anderen Figuren unterscheidet, ist der Bruch mit einem stillschweigenden Konsens. In der politischen Klasse verstand es sich bis jetzt von selbst, dass das Europa der Bürger ein viel zu komplexes Gebilde ist und dass die finalité, das Ziel der europäischen Einigung, eine viel zu komplizierte Frage ist, als dass man die Bürger selbst damit befassen dürfte. Die laufenden Geschäfte der Brüsseler Politik sind nur etwas für Experten und allenfalls für die gut informierten Lobbyisten; während die Regierungschefs die ernsteren Konflikte zwischen aufeinanderstoßenden nationalen Interessen unter sich, in der Regel durch Aufschieben oder Ausklammern, beilegen. Vor allem aber besteht zwischen den politischen Parteien Einverständnis darüber, dass in nationalen Wahlen europäische Themen tunlichst zu vermeiden sind, es sei denn, dass sich die hausgemachten Probleme auf die Schultern Brüsseler Bürokraten abschieben lassen. Und nun will Macron mit dieser mauvaise foi aufräumen. Er hat ein Tabu bereits damit gebrochen, dass er die Reform Europas in den Mittelpunkt seiner Kampagne gerückt und diese Offensive, ein Jahr nach dem Brexit, gegen „die traurigen Leidenschaften“ Europas sogar gewonnen hat. Dieser Umstand verleiht dem oft gehörten Satz, dass die Demokratie das Wesen des europäischen Projektes sei, in seinem Munde Glaubwürdigkeit. Die Umsetzung seiner angekündigten politischen Reformen in Frankreich kann ich nicht beurteilen. Es wird sich zeigen müssen, ob er das „sozialliberale“ Versprechen, die schwierige Balance zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Produktivität einzuhalten, einlöst. Als Linker bin ich kein „Macronist“, wenn es so etwas gibt. Aber wie er über Eu - ropa spricht, macht einen Unterschied. Er wirbt um Verständnis für die Gründungsväter, die Europa ohne die Bevölkerung erschaffen hätten, weil sie einer aufgeklärten Avantgarde angehörten; er selbst will aber nun aus dem Elite- ein Bürgerprojekt machen und fordert naheliegende Schritte zur demokratischen Selbstermächtigung der europäischen Bürger gegen die nationalen Regierungen, die sich im Europäischen Rat gegenseitig blockieren. So fordert er für die Europawahlen nicht nur ein allgemeines Wahlrecht, sondern auch eine Kandidatenaufstellung nach länderübergreifenden Parteilisten. Das befördert nämlich die Ausbildung eines europäischen Parteiensystems, ohne das aus dem Straßburger Parlament kein Ort werden kann, wo gesellschaftliche Interessen über die Grenzen der jeweils eigenen Nation hinweg verallgemeinert und zur Geltung gebracht werden können. Wenn man die Bedeutung von Emmanuel Macron richtig einschätzen will, kommt noch ein dritter Aspekt in Betracht, eine persönliche Eigenschaft: Er kann reden. Es handelt sich in seinem Fall nicht nur um einen Politiker, der sich durch seine rhetorische Begabung und die Sensibilität für das geschrieben Wort Aufmerksamkeit, Ansehen und Einfluss erwirbt. Vielmehr verleiht die genaue Wahl seiner inspirierenden Sätze und die Artikulationskraft der Rede dem politischen Gedanken selbst analytische Schärfe und eine ausholende Perspektive. Norbert Lammert war bei uns der Letzte, der Erinnerungen an die großen Bundestagsdebatten von Gustav Heinemann, Adolf Arndt und Fritz Erler in der frühen Bundesrepublik geweckt hat. Natürlich bemisst sich die Qualität der Ausübung des Politikerberufs nicht am rednerischen Talent. Aber Reden können die Wahrnehmung der Politik in der Öffentlichkeit verändern, das Niveau heben und den Horizont einer öffentlichen Debatte erweitern. Und damit auch die Qualität nicht nur der politischen Willensbildung, sondern des politischen Handelns selber. Wo die Formlosigkeit der Talkshows zum Maßstab für Komplexität und Atemlänge des öffentlich zulässigen politischen Gedankens wird, fällt Macron durch das Format seiner Reden auf. Anscheinend fehlt uns die Wahrnehmungsfähigkeit für solche Qualitäten, sogar für das Wann und Wo einer Rede. So war die Rede, die Macron vor Kurzem im Rathaus von Paris aus Anlass des Reformationsjubiläums gehalten hat, nicht nur inhaltlich interessant; sie war nicht nur ein geschickter Versuch, den Rückblick auf die Geschichte der Konfessionskämpfe in Frankreich zur Anpassung einer Staatsdoktrin, des strengen französischen Laizismus, an die Anforderungen einer pluralistischen Gesellschaft zu nutzen. Anlass und Thema der Rede waren zugleich eine Geste an die protestantisch geprägte Kultur des Nachbarlandes – und an die evangelische Kollegin in Berlin. Natürlich sind uns Anspruch und Stil, staatliche Macht zu repräsentieren, spätestens seit dem nostalgischen Blick eines Carl Schmitt auf die französische Gegenaufklärung im 19. Jahrhundert fremd geworden. Uns mag der Sinn für die Gravitas eines Lebens im Élysée-Palast fehlen, den Macron im SPIEGEL-Gespräch hochhält. Aber die intimere Kenntnis der hegelschen Geschichtsphilosophie, mit der er auf die Frage nach Napoleon als dem „Weltgeist zu Pferde“ reagiert, ist dann doch wieder eindrucksvoll. ■ 136 DER SPIEGEL 43 / 2017
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