„Macht ist wie Alkohol“ Sexismus Unter #MeToo brechen Millionen Frauen und Männer das Schweigen über sexuelle Belästigung im Alltag. Die Wucht ihrer Berichte erreicht auch Politik und Wirtschaft. Vor allem Führungsleute müssen sensibilisiert werden. 14 DER SPIEGEL 43 / 2017 Margot Wallström zum Beispiel, die schwedische Außenministerin. „Me too“, schreibt sie am Mittwochnachmittag auf Facebook. Nur diese zwei Worte. „Ich auch.“ Und alle wissen, was sie meint: Auch ich habe sexuelle Belästigung erfahren. Es folgen, wie üblich, beleidigende Kommentare: „Ich bezweifle, dass das passiert ist. Wer würde dich schon belästigen?“ Andere kommentieren schlicht: „Me too.“ Zwei Worte reichen, damit eine globale Bewegung entsteht. Eine Bewegung der Herabgewürdigten, der Belästigten, der Misshandelten. Eine Bewegung von Betroffenen, die bislang anonym und passiv waren. Nun haben sie Millionen Namen und Gesichter und teilen der Welt ihre Geschichten mit. Seit Sonntag twittern und posten Frauen und wenige Männer in den sozialen Netzwerken unter #MeToo ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen. Darunter sind Prominente, Politikerinnen, Schauspielerinnen, Sportlerinnen. Ein detailliertes Archiv über Berichte von Macht und Missbrauch ist so entstanden, ein digitales Dokument der Schande. Das Mächtige an diesem Hashtag ist seine Bescheidenheit. #MeToo hat nicht den Anstrich des Politischen, er ruft nicht zum Protest auf. Er trägt auch nicht die Em - pörung in seinem Namen, wie einst #Aufschrei nach der Affäre um Rainer Brüderle von der FDP, der die „Stern“-Reporterin Laura Himmelreich mit einer anzüglichen Dirndl-Bemerkung belästigt hatte. #MeToo ist zunächst nur eine Erhebung und die stille Einladung, ein massives Alltagsproblem zu betrachten. #MeToo heißt: Hör erst mal zu. Natürlich, die Debatte um sexuelle Belästigung ist nicht neu. Sie wurde nach Brüderle geführt und nach der Kölner Silvesternacht. Sie wurde nach Sebastian Edathy, nach dem Gerichtsverfahren gegen Gina-Lisa Lohfink geführt und nach der „Grab the pussy“-Bemerkung von Donald Trump. Und auch, nachdem die CDU-Politikerin Jenna Behrends in einem offenen Brief schrieb, dass der damalige Berliner Innensenator Frank Henkel sie als „große süße Maus“ bezeichnet haben soll. Die Debatte erreichte den Bundestag und veränderte Gesetze. Zweimal wurde in den vergangenen vier Jahren das Sexualstrafrecht verschärft: Seit Januar 2015 macht sich strafbar, wer Nacktbilder von Kindern und Jugendlichen zu kommerziellen Zwecken herstellt oder anderen anbietet. Im November 2016 wurde der Tatbestand der sexuellen Belästigung ins Strafgesetzbuch eingeführt. Wer eine andere Person „in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt“, muss nun mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe rechnen. Mithilfe des neuen Paragrafen 184i des Strafgesetzbuches sollen Handlungen wie das Berühren von Po und Brüsten sowie das plötzliche Küssen leichter als Straftat geahndet werden können. Es ist ein Paragraf gegen Grapscher. Doch es gibt auch die andere Seite: 2015 veröffentlichte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine repräsentative Befragung. Demnach gaben 49 Prozent der Frauen an, schon einmal eine „gesetzlich verbotene Belästigung am Arbeitsplatz“ erlebt zu haben – meistens im Büro (56 Prozent), bei Betriebsfesten (48 Prozent), auf Fluren oder im Fahrstuhl (35 Prozent). Ein Jahr zuvor hatte eine Studie unter dem Titel „Truppenbild ohne Dame?“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozial - wissenschaften der Bundeswehr für Aufsehen gesorgt. Demnach waren 55 Prozent der mehr als 3000 befragten Frauen in ihrer Bundeswehrzeit sexuell belästigt worden: 47 Prozent berichteten über „Bemerkungen/Witze sexuellen Inhalts“, 25 Prozent über das „unerwünschte Zeigen oder sichtbare Anbringen pornografischer Darstellungen“. 24 Prozent der Befragten, also mehr als 700 Soldatinnen, waren körperlich belästigt worden, etwa durch sexuell motivierte Berührungen an Brust oder Po, während drei Prozent – also mehr als 90 Frauen – angaben, Handlungen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung erlebt zu haben. <strong>Der</strong> öffentliche Aufschrei über die Zustände der Truppe hallte seinerzeit nicht besonders lange nach. Heute erzählen nur we - nige Politikerinnen offen von ihren Erfahrungen sexueller Erniedrigung. Aber es sind nicht nur traditionelle Männerbünde, in denen sich Frauen besonders oft sexistischer Angriffe erwehren müssen. Eine im Jahr 2000 erhobene Befragung unter 1062 Münchner Berufsschülerinnen und Auszubildenden ergab eine Art Branchen- Ranking. Demnach wurden weibliche Azubis im Hotel- und Gaststättenbereich besonders häufig sexuell belästigt (84 Prozent), gefolgt von ihren Kolleginnen in technischen und handwerklichen Berufen (60 bis 66 Prozent). Ausgerechnet die Politik ahndet eine allzu große Offenheit der Betroffenen hart: Abgeordnete, die noch vor vier Jahren in der #Aufschrei-Kampagne ihre Erlebnisse geschildert hatten, wurden plötzlich bei der Postenvergabe übersehen. Ihr Protest wurde zu einem Stigma. Heute erzählen deshalb nur wenige Politikerinnen offen von ihren Erfahrungen sexueller Erniedrigung. Bundesfamilienministerin Katarina Barley von der SPD gehört dazu. Barley kennt solche Situationen noch aus ihrer aktiven Zeit als Juristin. Einmal habe der Chef ihr mitgeteilt, es sei doch sehr gut, dass sie einen Doktortitel habe. <strong>Der</strong> würde sie davor bewahren, für seine Sekretärin gehalten zu werden. Auch in der Politik, sagt die Ministerin, komme man gerade als jüngere Frau immer noch häufig in die Situation, dass das Frausein thematisiert werde – sei es durch Bemerkungen über die Kleidung, über das Auftreten, über den Charme. „Unzählige kleine Begebenheiten“, sagt Barley. Sie glaubt, die meisten Männer dächten, sie würden den Frauen etwas Gutes tun, wenn sie sie lobten. „In Wirklichkeit geht es um Macht“, sagt Barley. „Viele Männer verstehen nicht, dass in ihren Bemerkungen etwas Gönnerhaftes liegt, dass die Bewertung der Frau auch zeigt, dass der, der bewertet, die Macht hat, dies zu tun.“ Barley glaubt, dass #MeToo helfen kann, aber dass auch die Politik gefragt ist. „Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen muss beseitigt werden. Die Lohnlücke muss geschlossen werden, es müssen so viele Frauen wie Männer in den Parlamenten sein, Elternzeit muss genauso Frauenwie Männeraufgabe sein.“ Vielleicht ist #MeToo nur eine neue Erregungswelle von vielen, vielleicht ebbt sie schnell wieder ab. Vielleicht aber reicht diesmal ihre Wucht aus, um die gesell- FRANCESCO CICCOLELLA / DER SPIEGEL
Titel DER SPIEGEL 43 / 2017 15