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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Gesellschaft<br />

56 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Familie“ haben wollen. Ihr Bruder sagt,<br />

bevor seine Schwester Jens K. kennenlernte,<br />

sei sie „lebensfroh“ und „kontaktfreudig“<br />

gewesen. K. sagt, seine Frau sei unzufrieden<br />

gewesen, weil er „ihre Lebensansprüche“<br />

nicht habe erfüllen können, sie<br />

habe mehrfach versucht, sich umzubringen,<br />

habe oft „Wutausbrüche“ gehabt. Ihr<br />

Bruder sagt, niemand aus der Familie habe<br />

Franziska je wütend erlebt, sie sei K. „hörig“<br />

gewesen. K. habe sie sozial isoliert,<br />

bis sie das Haus nicht mehr allein verlassen<br />

durfte, er habe sie in der Wohnung eingeschlossen,<br />

das Telefon ausgestöpselt und<br />

mitgenommen. Jens K. sagt, Franziska und<br />

er, das sei „die große Liebe“ gewesen.<br />

Aus dem Obduktionsbericht und anderen<br />

Dokumenten: „<strong>Der</strong> Leichnam ist komplett<br />

konserviert und wirkt mumifiziert.<br />

Eine Untersuchung des Kehlkopfes und des<br />

Zungenbeines lässt keine konkreten Ergebnisse<br />

bzgl. eines Knochenbruches zu … Bei<br />

hochgradiger Mumifizierung/Fäulnis pathologisch<br />

und anatomisch keine Hinweise auf<br />

eine Todesursache … Das noch im Fass befindliche<br />

Katzenstreu und das Fass wurden<br />

umweltgerecht entsorgt.“<br />

Zu diesem Zeitpunkt wissen die Ermittler<br />

nur, dass Franziska Sander seit 24 Jahren<br />

und sieben Monaten tot ist. Wie sie<br />

ums Leben kam, bleibt unklar. Es gibt keine<br />

Befunde, die die Geschichte des Jens<br />

K. bestätigen, und keine, die sie widerlegen.<br />

Vom November 1991 datiert das letzte<br />

Telefongespräch der Franziska Sander mit<br />

einer ihrer Angehörigen. Sie erzählt ihrer<br />

Schwester, dass sie beabsichtige, mit ihrem<br />

Mann nach Norwegen auszuwandern. Nun<br />

beginnt auch das lange Lügen des Jens K.<br />

Ein halbes Dutzend verschiedene Versionen<br />

vom Verschwinden oder Ableben<br />

seiner Frau wird er in den folgenden Jahren<br />

erzählen. Seinem besten Freund erklärt<br />

Jens K. damals, seine Frau sei an<br />

Krebs erkrankt und liege in Hamburg in<br />

einer Spezialklinik. Ein paar Wochen später<br />

sagt er, sie sei gestorben und anonym<br />

bestattet worden. Die Angehörigen lässt<br />

er glauben, Franziska suche in Norwegen<br />

ein Haus, für ihre gemeinsame Zukunft.<br />

Dann, im Herbst 1992, als seine Frau bereits<br />

seit Monaten tot ist, sagt er der<br />

Schwester und dem Bruder, Franziska<br />

habe ihn verlassen, weil der Umzug nach<br />

Norwegen nicht geklappt habe. Er wisse<br />

nicht, wo sie sei.<br />

Polizist: „Ist es Ihnen tatsächlich gelungen,<br />

diese Sache die ganzen Jahre für sich<br />

zu behalten?“<br />

Jens K.: (Kopfnicken)<br />

<strong>Der</strong> Bruder von Franziska Sander wendet<br />

sich im November 1992 an die Polizei.<br />

Er will eine Vermisstenanzeige aufgeben,<br />

was jedoch misslingt. <strong>Der</strong> Beamte habe ihn<br />

wieder fortgeschickt, weil „keine Hinweise<br />

auf ein Verbrechen“ vorlägen. Franziska<br />

Sander sei volljährig, so habe man dem Bruder<br />

erklärt, sie könne „tun und lassen, was<br />

sie wolle“, wenn überhaupt, sei es „Sache<br />

des Ehemannes“, sie als vermisst zu melden.<br />

Das tut Jens K. natürlich nicht. Nicht<br />

1992, nicht in den folgenden Jahren, nie.<br />

Keine Vermisstenanzeige – keine Fahndung.<br />

Kein Verdacht auf ein Verbrechen –<br />

keine Ermittlung. Franziska Sander verschwindet<br />

so spurlos, wie sie gelebt hat.<br />

Damit die Geschwister weiter davon ausgehen,<br />

sie sei noch am Leben, legt Jens K.<br />

im Februar 1993 eine krude falsche Fährte.<br />

Er fährt nach Hamburg und wirft eine Postkarte<br />

ein, die er mit Schreibmaschine an<br />

sich selbst adressiert hat. Absender: „F.“<br />

Auf der Karte steht einzig die Nummer einer<br />

anrufbaren Telefonzelle. Jens K. leitet<br />

die Karte später an Franziskas Geschwister<br />

weiter – als Beweis, dass sie noch lebt.<br />

Polizist: „Möchten Sie einen Rechtsanwalt?“<br />

Jens K.: „Dann muss mir einer bestellt<br />

werden. Ich habe dazu derzeit nicht die finanziellen<br />

Möglichkeiten.“<br />

Am 20. August 1994 wird in der Bothfelder<br />

Heide in Hannover eine unbekannte<br />

Frauenleiche gefunden, zerstückelt. Hubertus<br />

Sander, Franziskas Bruder, damals<br />

47 Jahre alt, als Forstdirektor wohnhaft in<br />

Berlin, richtet sich an die zuständige Mordkommission:<br />

Seit zwei Jahren vermisse er<br />

seine Schwester, Franziska Sander, er befürchte,<br />

sie sei die Tote. Er habe „die Vermutung,<br />

ihr wurde etwas angetan“.<br />

Aus diesem Anlass kommt es am 1. September<br />

1994 erstmals zu einer Vernehmung<br />

des Jens K., wobei man ihn nicht<br />

als Verdächtigten befragt, sondern als Zeugen.<br />

Und er erzählt weiter widersprüch -<br />

liche Geschichten, Lügen.<br />

Sagt, seine Frau habe „immer höhere<br />

Ansprüche“ gestellt. Sagt: „<strong>Der</strong> Streit war<br />

so massiv, dass Franziska am 10. Februar<br />

1992 unsere Wohnung verlassen hat.“ Er<br />

erwähnt die Postkarte, die sie ihm später<br />

aus Hamburg geschickt habe, sie hätten<br />

sich daraufhin verabredet, Franziska habe<br />

bei dem Treffen „sehr gepflegt“ ausgesehen.<br />

Er sagt, er selbst wolle bald eine Vermisstenanzeige<br />

aufgeben, sollte Franziska<br />

nicht in eine Scheidung einwilligen.<br />

Nichts davon stimmt.<br />

Die Polizei unternimmt auch jetzt nicht<br />

mehr als nötig. Sie überprüft nicht, ob K.<br />

die Anzeige wirklich aufgibt, ob er sich<br />

tatsächlich scheiden lässt. Sie ignoriert,<br />

dass keine Adresse von Franziska Sander<br />

festzustellen ist. Als klar wird, dass die unbekannte<br />

Tote in der Heide „aufgrund des<br />

abweichenden Zahnstatus“ nicht Franziska<br />

Sander sein kann, wird Spurenakte 13<br />

am 1. November 1994 geschlossen.<br />

Unbegreiflich ist, wie sich in dieser Geschichte<br />

nun die Zeit zu strecken und zu<br />

dehnen beginnt. Aus Tagen der Untätigkeit<br />

werden Wochen, aus Wochen ohne<br />

Nachrichten Monate, aus Monaten des Vergessens<br />

werden Jahre. Ab und zu erkundigen<br />

sich die Geschwister beim Einwohnermeldeamt,<br />

ob ihre Schwester vielleicht<br />

eine neue Anschrift habe, denn in Hannover<br />

ist inzwischen die „Abmeldung von<br />

Amts wegen“ erfolgt, für die deutsche Bürokratie<br />

gilt sie damit als obdachlos. Franziska<br />

Sander wird zum Geist.<br />

Und Jens K.? <strong>Der</strong> hat schnell ein neues<br />

Leben begonnen. Neun Monate nach Franziskas<br />

Tod hat er eine andere Frau kennengelernt,<br />

M.*, die aus einer früheren Beziehung<br />

eine kleine Tochter hat. Das Fass<br />

bringt er zunächst im eigenen Keller unter,<br />

später in einer Garage in der Nähe des<br />

Hauptbahnhofs in Hannover. Auch seine<br />

neue Freundin belügt er, erzählt ihr, er<br />

habe an Franziskas Bett gestanden, als sie<br />

an Krebs gestorben sei. M. gibt später zu<br />

Protokoll: „Als wir über ihren Tod gesprochen<br />

haben, hat er geweint.“<br />

Die Jahre vergehen, gute Jahre für Jens<br />

K., er zeugt zwei Kinder mit M. und sieht<br />

der Stieftochter beim Aufwachsen zu. 2002<br />

zieht die Familie um nach Schleswig-Holstein.<br />

Das blaue Fass mit der Leiche seiner<br />

Frau holt er ein Jahr später aus Hannover<br />

nach, im Kofferraum eines Kombis, er verstaut<br />

es in der Garage mit der Nummer elf.<br />

Jens K. kümmert sich um den Haushalt<br />

und die Kinder, fährt Taxi, versucht sich<br />

als Vertreter für Handpuppen und Alarmanlagen.<br />

Die Polizei ruft nicht an, die Geschwister<br />

seiner toten Frau auch nicht<br />

mehr, niemand stört ihn.<br />

Hubertus Sander, der Bruder, ist heute<br />

70 Jahre alt, er lebt in Schweden, in einem<br />

roten Holzhaus. Er sitzt in seinem Wohnzimmer,<br />

er zeigt Fotos seiner Schwester:<br />

Franziska beim Zelten, beim Rodeln, mit<br />

Gitarre. Er sagt: „Wenn die Polizei ihre Arbeit<br />

gemacht hätte, wäre er nicht einfach<br />

davongekommen.“ Und ohne ihn, den Bruder,<br />

wäre Franziska Sander wohl für immer<br />

verschwunden geblieben.<br />

Denn im Herbst 2012, als seine Schwester<br />

schon seit 20 Jahren tot ist, unternimmt<br />

Hubertus Sander einen „letzten Versuch,<br />

sie zu finden“. Neue Gesetze kommen ihm<br />

dabei zu Hilfe und ein Kriminalhauptkommissar,<br />

den Hubertus Sander zufällig kennengelernt<br />

hat. Dessen Ermittlungsergebnisse<br />

liegen der Vermisstenanzeige bei, die<br />

am 8. Januar 2013 eingeht.<br />

Die Anzeige wird weitergeleitet an den<br />

Zentralen Kriminaldienst Hannover, die<br />

Beamten schreiben Franziska Sander zur<br />

Fahndung aus, „Zweck der Ausschreibung:<br />

Aufenthaltsermittlung“. Zwischen dem<br />

Eingang der Vermisstenanzeige und der<br />

Vorladung Jens K.s vergehen drei Jahre,<br />

was nicht überrascht in dieser Geschichte.<br />

K., der zu dieser Zeit als Erzieher mit<br />

Flüchtlingskindern arbeitet, antwortet in<br />

einer E-Mail: „Ich war von dem Schreiben<br />

etwas überrascht, da der Fortgang meiner<br />

Frau nun 23 Jahre her ist und ich nie wie-

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