„Jamaika ist eine Notwendigkeit“ SPIEGEL-Gespräch <strong>Der</strong> frühere Außenminister Joschka Fischer, 69, sieht eine Zusammenarbeit der Grünen mit Union und FDP als Chance und stellt die AfD in eine Linie mit dem Nationalsozialismus. HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL 34 DER SPIEGEL 43 / 2017
Deutschland SPIEGEL: Herr Fischer, schon im Jahr 2005 war Jamaika rechnerisch möglich. Als Sie damals danach gefragt wurden, mussten Sie an Angela Merkel und Guido Westerwelle mit Dreadlocks und einem Joint in der Hand denken und lachten nur: „Wie soll das gehen, im Ernst, ich meine, bitte.“ Und heute? Fischer: Es gilt der alte Bob-Dylan-Song: „The times they are a-changin’“, die Zeiten ändern sich. Wir sind ein paar Jahre weiter, und das, was ich damals – vielleicht auch nur mangels Fantasie – für unmöglich hielt, ist heute eine Notwendigkeit geworden. So kann’s gehen. SPIEGEL: Was hat sich denn so grundlegend geändert? Fischer: Spätestens seit 2015 und dem Ankommen der Flüchtlinge ist klar, dass die Zeit des sich immer mehrenden Sonnenscheins über unserem lieben Vaterland zu Ende geht. Die großen Probleme des 21. Jahrhunderts klopfen an unsere Tür. Das gilt auch für die dramatischen Veränderungen, die wir global unter anderem beim Brexit und bei der Wahl von Donald Trump sehen. Man kann die Menschen nicht gewinnen, indem man schweigt und abwartet, wie Angela Merkel es versucht hat. Die Menschen wollen – im besten Sinne des Wortes – Führung. SPIEGEL: Jamaika soll mit Führung punkten? Es wird eher auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslaufen. Fischer: Die Verantwortlichen werden in die Situation kommen, dass sie führen müssen. Schon allein, weil die Verhältnisse heute sind, wie sie sind. <strong>Der</strong> Druck der Realitäten, wie das so schön heißt, wird enorm werden. Wir haben das schon damals bei Rot-Grün erlebt: Wir waren noch nicht im Amt, da war die Frage des Kosovokriegs bereits zu beantworten. Und dann kamen noch die Anschläge vom 11. September. SPIEGEL: Welche Punkte müssen die Grünen in einer Koalition mit Union und FDP unbedingt durchsetzen? Fischer: Ich verweise auf diejenigen, die in der Verantwortung sind, die können Ihnen das sagen. Durch den Zwang zur Einigung, den ich eben beschrieben habe, werden sich alle bewegen müssen, nicht nur wir, sondern auch FDP, CDU und vor allem CSU. Die ist übrigens ein echter Faktor der Instabilität bei Jamaika. Das macht mir die größten Sorgen. SPIEGEL: Sie sehen kein inhaltliches Thema, das für die Grünen essenziell wäre? Fischer: Doch, ich nehme an, da gibt es einige. Aber das ist Sache der gewählten Gremien und der Partei. Die Zukunft der deutschen Automobilindustrie steht zum Beispiel konkret auf dem Spiel. Werden wir den Umbruch, den die Elektrifizierung mit sich bringt, gestalten oder erleiden? Wir sind das Automobilland. Wenn wir es nicht schaffen, hier technologisch an der Spitze zu bleiben, wird es bitter. Das ist eine der entscheidenden Fragen, was Arbeitsplätze, Einkommen, Wohlstand angeht, nicht nur für ein paar Reiche oder Superreiche, sondern für sehr, sehr viele Menschen. SPIEGEL: Wäre es richtig, ab 2030 keine Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen? Fischer: Über das Jahr kann und wird man streiten. Aber wir müssen etwas tun, sonst versündigen wir uns an der Zukunft unseres Landes. Die Industrie weiß das und wird deshalb handeln. Was passiert, wenn China wie angekündigt ein Datum setzt? Dann hinken wir hinterher. Es wäre doch wesentlich besser, wenn sich die deutsche Automobilindustrie und unser Land an der Spitze dieser Entwicklung bewegen würden. Und da könnte Jamaika wirklich eine Chance sein, weil die Grünen mit Union und FDP eine Lösung finden könnten, und zwar nicht gegen die Wirtschaft, sondern für die Mobilität von morgen, für die Menschen und die Umwelt. SPIEGEL: Sie klingen wie Cem Özdemir. Telefonieren Sie öfter, lässt er sich von Ihnen beraten? Fischer: Wir telefonieren dann und wann. Wenn ich so klinge, zeigt das doch, dass vernünftige Leute zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen, wenn sie die Fakten zur Kenntnis nehmen und drüber nachdenken. Darauf gibt es kein Copyright. SPIEGEL: Zu den Fakten gehört auch, dass die Grünen bei der jüngsten Bundes - tagswahl nur auf dem sechsten Platz gelandet sind. Laut Infratest dimap sind allein 170 000 Grünenwähler zu den Linken abgewandert. Haben Sie keine Sorge, dass Jamaika die Grünen zerreißt? Fischer: Habe ich nicht. Die Partei macht einen geschlossenen Eindruck. Sollen die Grünen nicht regieren aus Sorge, dass Wähler zu anderen Parteien gehen könnten? Es ist andersherum: Die Grünen würden viele Wähler verlieren, wenn sie sich kategorisch verweigerten. SPIEGEL: So eindeutig ist das nicht. In Österreich haben sich die Grünen gespalten. <strong>Der</strong> frühere Parteichef Peter Pilz hat mit einem dezidierten Linkskurs den Sprung ins Parlament geschafft. Die Realpolitiker der Grünen sind draußen. Wie wollen Sie in einer Jamaikakoalition linke Grünenwähler bei der Stange halten? Fischer: Österreich ist doch ein warnendes Beispiel. Da sitzt jetzt eine Gruppe mit etwas mehr als vier Prozent im Parlament und ist völlig machtlos. Und die Rechten regieren! Gemeinsam hätten die Grünen acht Prozent gehabt. Natürlich wird Jamaika für die Partei eine große Herausforderung. Aber man kann sich die Herausforderungen nicht aussuchen. Nach Lage der Dinge will aktuell keine Partei Jamaika, aber alle müssen, weil das Volk so gewählt hat. Außer einer Minderheitsregierung oder Neuwahlen gibt es keine Alternative. SPIEGEL: Die schließen Sie aus? Fischer: Wer will denn die Verantwortung für Neuwahlen übernehmen? Die würden mit einem noch besseren AfD-Ergebnis und womöglich wieder unklaren Mehrheiten enden. SPIEGEL: Welche Ministerien sollten die Grünen in einer Jamaikakoalition beanspruchen? Fischer: Das entscheide nicht ich. Dazu nur eine Bemerkung aus eigener Erfahrung: Es geht natürlich immer um die Sache, gerade bei den Grünen. Es gibt aber neben der Sachfrage ein weiteres wichtiges Element, das ist die Machtfrage. Die darf man nicht unterschätzen, auch im Interesse der Stabilität einer möglichen Koalition. SPIEGEL: Was hat das mit der Ressortverteilung zu tun? Fischer: Wenn die beiden anderen Koalitionspartner über mächtige Ressorts verfügen, wäre es keine gute Idee, wenn die Grünen nicht ebenfalls ein wichtiges klassisches Ressort übernähmen. Sonst haben sie es mit dem Kanzleramt zu tun, dem Finanzministerium und dem Innenministerium. Alles große, klassische Ressorts, die im Zentrum der Regierungsmacht zu Hause sind. Das gilt es zu bedenken. SPIEGEL: War das gerade vom ehemaligen Außenminister das Plädoyer dafür, dass die Grünen das Außenministerium beanspruchen sollten? Fischer: Ich sage nur, dass die Grünen bedenken sollten, dass sie auch in der Machtfrage präsent sein müssen. SPIEGEL: Halten Sie das Außenministerium nach wie vor für ein mächtiges Ressort? Fischer: Eindeutig ja. Das Außenministerium ist nach wie vor sehr wichtig. SPIEGEL: Als einer der Gründe für den Aufstieg der AfD gilt die mangelnde Unterscheidbarkeit der Parteien. Wird das Problem nicht noch verschärft, wenn in Zukunft Union, Grüne und FDP in einer Regierung sind? Fischer: Keine Sorge, die Parteien werden sehr unterscheidbar bleiben. Selbst unter Rot-Grün etwa gab es bestimmt kein Unterscheidbarkeitsdefizit. Damals wurde doch immer gesagt: Mein Gott, sind die chaotisch. In der Großen Koalition war es den Journalisten dann auf einmal zu ruhig. SPIEGEL: Mit der AfD sitzt jetzt eine rechtspopulistische Partei im Bundestag. Ist das eine politische Zeitenwende? Fischer: Wieso rechtspopulistisch? Wie nennen wir in Deutschland eine Partei, die sich völkisch definiert? Die Tradition ist eindeutig. Die Letzten, die eine solche Position vertreten haben, waren die Nazis. SPIEGEL: Sie halten die AfD für eine Partei in der Tradition der NSDAP? Fischer: Oh ja! Ich bin ja in den Fünfzigerjahren aufgewachsen. Alle in meiner Ge- DER SPIEGEL 43 / 2017 35