Jaarboek Thomas Instituut 2006 - Thomas Instituut te Utrecht

RELIGlO ALS ZUWENDUNG
Thomas von Aquins Religio-Begriff und die
Spätmoderue
Frans JH. Vosman
Wer in Thomas von Aquins Abhandlung zur religio in der Secunda
Secundae seiner Summa Theologiae (q. 80-100) liest, wird zuerst
vom Kontext dieses Themas getroffen. Religio, sich Gott zuwenden, I
ist laut Thomas eine Tugend, und das ist an sich bereits eine
auffallende Platzierung. Au13erdem ist diese Tugend
bemerkenswerterweise mit der Tugend der Gerechtigkeit
verbunden. 2 Stark beeinflusst von modernen Definitionen der
Gerechtigkeit, die sich oft auf Tauschgerechtigkeit und distributive
Gerechtigkeit beschränken, muss man sich zuerst bemühen, diesen
Zusammenhang von religio und Gerechtigkeit einigermaûen zu
verstehen. Tauschgerechtigkeit und distributive Gerechtigkeit sind
beide Teile der Gerechtigkeit. In der Tauschgerechtigkeit wird
Gleichheit der Beteiligten unterstellt, während es bei der
distributiven Gerechtigkeit urn eine Beziehung geht, in der
Ungleichheit herrscht, wo von oben nach unten auf Untergebene
hinabgeblickt wird. Böckenförde benutzt auf erhellende Weise den
Terminus .Beziehungsfelder" urn zu verdeutlichen, dass es sich bei
Gerechtigkeit urn unterschiedliche Beziehungen handelt. 3 Das
I leh werde im Foigenden den lateinisehen Terminus religio benutzen urn
den thomasianisehen Begriff vom modernen religionswissensehaftliehen
Begriff 'Religion' zu unterseheiden.
2 Oft wird die Breite von Thomas' Gereehtigkeitsbegriffs übersehen, z.B, in
der überigens wertvollen Ausgabe von St. Lippert, Recht und Gerechtigkeit
bei Thomas von Aquin: eine rationale Rekonstruktion im Kontext der Summa
Theologiae, Marburg 2000.
3 Kurz und prazise bzgl. Thomas von Aquins und seines
Gerechtigkeitsbegriffs: E.-W. Böckenförde, Der Beitrag politisehen
Handeins zur Verwirkliehung von Gereehtigkeit, in W. Ernst (Hrsg.),