Modellprojekt ESCAPE - Familie - Freistaat Sachsen
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EVALUATIONSBERICHT<br />
Für die Pädagogik und für den Handlungsauftrag der Jugendhilfe stellt sich in diesem Zusammenhang<br />
insbesondere die Frage nach den Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen des<br />
Kindes. Auch wenn sich die <strong>Familie</strong> als Lebensform ausdifferenziert, bleibt sie als primäre Sozialisationsinstanz<br />
für Kinder - mehr noch als für Jugendliche - der wichtigste Bezugsort. Eine<br />
produktive Bewältigung der Entwicklungsphase erfolgt auf der Grundlage personaler und sozialer<br />
Ressourcen (Fend 1990). Für einen inneren und äußeren Halt brauchen Kinder eine stabile<br />
Beziehung mit emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Die Lebenssituation und die Entwicklungsmöglichkeiten<br />
der Kinder sind daher entscheidend von den Bedingungen in der <strong>Familie</strong><br />
bzw. im engsten sozialen Umfeld abhängig.<br />
Unter ungünstigen sozialen Bedingungen und in gestörten familiären Milieus verringern sich die<br />
Entwicklungschancen eines Kindes. Fehlt der Schonraum einer fördernden Umwelt (Winnicott<br />
1974, 1988), sind Kinder in direkter Weise den sozialen Anforderungen und Risiken ausgesetzt.<br />
Soziale Benachteiligungen und dauerhafte Belastungen, unverarbeitete kritische Lebensereignisse<br />
und Einsamkeit in seelischen Notlagen führen zu Überforderungen, zu biografischen Brüchen<br />
und Entwicklungsstörungen im Sozialisationsprozess. Das Kind wird zum Symptomträger<br />
komplexer Problemlagen. Nach der Deprivationsthese von Winnicott ist der spätere „Räuber“<br />
ein in seiner frühen Entwicklungszeit „beraubtes Kind“. Im Konzept der Lebensbewältigung beschreibt<br />
Böhnisch (1999a) abweichendes Verhalten als eine Form der Bewältigung, gleichsam<br />
als das subjektive Streben nach situativer und biografischer Handlungsfähigkeit sowie nach<br />
psychosozialer Balance. In diesem Verständnis kann wiederholt delinquentes Verhalten, als eine<br />
Form abweichenden Verhaltens, kindliche Hilflosigkeit und Unterstützungsbedarf zum Ausdruck<br />
bringen. Diese Signale entsprechend frühzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen, ist<br />
Aufgabe sekundärer Sozialisationsinstanzen wie Schule und Jugendhilfe. Je früher angemessene<br />
Hilfen einsetzen und fördernde Bedingungen geschaffen werden, umso größer sind die<br />
Chancen, entwicklungsdienliche Weichen zu stellen. Untersuchungen belegen, dass Verhaltensauffälligkeiten<br />
in Kindereinrichtungen und in der Schule häufig ignoriert werden. Die Schule<br />
spielt bei der Früherkennung eine Schlüsselrolle. Sie ist ein Ort, wo Kinder und Jugendliche einen<br />
Großteil ihrer täglichen Zeit verbringen und an dem Verhaltensauffälligkeiten außerhalb der<br />
<strong>Familie</strong> sichtbar werden. Auch das unentschuldigte Fernbleiben vom Unterricht oder gar Schulverweigerung<br />
können Indikatoren für sich verdichtende Problemlagen und delinquentes Verhalten<br />
sein. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat einen Zusammenhang<br />
zwischen Schuleschwänzen und Delinquenz nachgewiesen. Je häufiger Kinder und Jugendliche<br />
die Schule schwänzen, desto stärker sind sie auch in Straftaten involviert, wie auch im<br />
Ersten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung gezeigt wird (BMJ/BMI, Hrsg.<br />
2001). Allerdings muss auch hier ausdrücklich betont werden, dass es sich in der weit überwiegenden<br />
Anzahl der Fälle um Bagatelldelikte handelt.<br />
Delinquenz im Kindes- und Jugendalter sollte vor diesem Hintergrund nicht vom strafrechtlichen,<br />
sondern vielmehr vom erzieherischen Standpunkt aus betrachtet werden. Wer als Pädagoge<br />
lediglich die Delinquenz und die Defizite des Kindes im Blick hat, bleibt an der Oberfläche<br />
und dringt nicht zum Kern des Problems. Mit der sozialisationsorientierten Argumentation sollen<br />
aber auch nicht die Eltern zum Sündenbock abgestempelt und delinquentes Verhalten auf Erziehungsversagen<br />
reduziert werden. Vielmehr soll damit die Bedeutung der <strong>Familie</strong> und der<br />
ganzheitliche Charakter für auffälliges Verhalten von Kindern zum Ausdruck gebracht werden,<br />
die Probleme machen, weil sie Probleme haben (Nohl). Professionelle Hilfe darf sich deshalb<br />
nicht nur auf das Kind beschränken, sondern muss immer auch das soziale Umfeld erreichen<br />
und einbeziehen.<br />
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