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<strong>DER</strong> MITTELSTAND. 1 | <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
KULTUR<br />
111<br />
„Ich bin eine Rampensau“<br />
Doris Dörrie über ihre Kindheit, ihre Berufung in die Oscar-Jury, ihren Bezug zu Japan und<br />
den USA sowie ihr Buch „Leben, schreiben, atmen“<br />
leicht somnambule Zustand hilft, Blödsinn<br />
zu schreiben, überhaupt zu schreiben. Wenn<br />
ich aufstehe, mich wasche und anziehe, ist<br />
es vorbei.<br />
Wann wird aus Ihren privaten Beobachtungen<br />
ein Film oder ein Buch?<br />
Die Übergänge sind fließend. Ich bin eine Flaneuse,<br />
die Lust am Aufsaugen der Welt und<br />
am Wiedergeben des Erlebten hat. Manche<br />
Figuren, die ich aufschreibe, wollen zum Film,<br />
manche nicht. Manchmal starte ich mit einer<br />
Prämisse, wie bei „Grüße aus Fukushima“ –<br />
den Ort wollte ich filmisch beschreiben, und<br />
die Figur der jungen Deutschen gab es schon<br />
in anderen Geschichten von mir als Vorstufe.<br />
Aber erst einmal lasse ich mich beim Schreiben<br />
von allem inspirieren, selbst von fremden<br />
Einkaufszetteln, die ich sammle.<br />
Es scheint, als seien Sie ein Mensch, der<br />
spontan auf Dinge stößt und sich auf neue<br />
Begegnungen einlässt.<br />
Da ist etwas dran. Ich versuche, immer wieder<br />
möglichst offen zu sein und Dinge an<br />
mich herankommen zu lassen. Wir haben<br />
viel zu oft den Impuls, uns zu verschließen,<br />
und das ist fatal, das verhindert Kommunikation<br />
und macht einsam.<br />
Haben Sie sich diese Grundeinstellung<br />
schon während Ihres Studiums in den USA<br />
angeeignet?<br />
Vielleicht ist dafür eher meine Neigung zu<br />
buddhistischen Sichtweisen verantwortlich.<br />
Aber die USA waren natürlich sehr entscheidend<br />
für mich; ich habe dort eine unglaubliche<br />
Freiheit empfunden. Vieles, was jetzt<br />
wieder ein großes gesellschaftliches Thema<br />
ist, wurde damals schon heiß diskutiert:<br />
Konsumkritik, ökologische Aspekte, das Hinterfragen<br />
von Machtstrukturen. Im Gegensatz<br />
zu Deutschland habe ich mich in den<br />
USA dauernd ermuntert gefühlt, auch beim<br />
Schreiben. „Just do it!“ war das Motto. Das<br />
war eine große Befreiung für mich. Diese<br />
prinzipielle Ermunterung versuche ich weiterzugeben.<br />
Später entdeckten Sie Japan für sich und<br />
waren inzwischen mehr als 30 Mal dort. Inwiefern<br />
hat dieses Land Sie geprägt?<br />
Für mich war der erste Besuch der wichtigste.<br />
Dieser Schock, mich nicht mehr über<br />
Sprache verständigen zu können, nichts<br />
mehr lesen zu können, auf einen Schlag völlig<br />
auf mich zurückgeworfen zu sein – das<br />
hatte eine euphorisierende Wirkung. Ich war<br />
dazu verdonnert, genau zu beobachten und<br />
zu registrieren, was vor sich geht. Diese Notwendigkeit<br />
hat mir viel gebracht und letztlich<br />
zu Filmen wie „Kirschblüten – Hanami“ geführt.<br />
Ab nächstem Jahr dürfen Sie über die Vergabe<br />
der Oscars mitbestimmen. Wie haben<br />
Sie von dieser Ehre erfahren – gab es einen<br />
Anruf der Academy of Motion Picture Arts<br />
and Sciences?<br />
Ganz im Gegenteil. Mein Mann hatte im<br />
SPIEGEL von meiner Berufung gelesen<br />
und es mir erzählt. Ich dachte, das wäre eine<br />
Falschmeldung oder ein Witz. Denn ich<br />
wusste von nichts. Wochen vergingen, auch<br />
andere Medien berichteten darüber, und so<br />
fragte ich nach. Dabei stellte sich heraus,<br />
dass die Academy meine Mailadresse falsch<br />
geschrieben hatte.<br />
Wie stehen Sie grundsätzlich zum Oscar?<br />
Ihre Filme scheiterten mehrmals in der<br />
Vorauswahl zum Auslandsoscar.<br />
Da ich kaum Nazis in meinen Filmen habe, ist<br />
das auch nicht verwunderlich. Aber im Ernst:<br />
Die Frage ist, ob man demokratisch über die<br />
Qualität eines Kunstwerks entscheiden kann.<br />
Meistens gibt es einen kommerziellen Kompromiss,<br />
und das bedeutet, dass so begeisternde<br />
Filme wie „Moonlight“ die Ausnahme<br />
bleiben. Man darf auch nicht vergessen, dass<br />
Hollywood eine Industrie ist. Dort werden<br />
Produkte hergestellt, reproduzierbare Waren.<br />
Für Kunst ist da nicht viel Platz.<br />
Das Interview führte Günter Keil.<br />
Gut zu wissen<br />
„Leben, schreiben, atmen“<br />
Wer einen Oscar bekommt, entscheidet in Zukunft auch Doris Dörrie mit. Die Filmemacherin und<br />
Autorin wurde von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences als Mitglied aufgenommen.<br />
Dörrie, geboren in Hannover, studierte Theater und Schauspiel in Kalifornien und in New York sowie<br />
später Regie an der Filmhochschule München. Dort unterrichtet sie seit <strong>20</strong> Jahren creative writing<br />
und gibt immer wieder Schreibworkshops. Mit Filmen wie „Männer“ und „Kirschblüten – Hanami“<br />
erreichte Doris Dörrie ein großes Publikum. Parallel zu ihrer Regiearbeit veröffentlicht sie Kurzgeschichten,<br />
Romane und Kinderbücher. Vor Kurzem ist ihr neues Buch „Leben, schreiben, atmen“<br />
(Diogenes) erschienen.<br />
Doris Dörrie<br />
Diogenes<br />
18,00 €