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<strong>DER</strong> MITTELSTAND. 1 | <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
EUROPA<br />
27<br />
Die neue EU-Kommissionschefin hat eine Reihe vollmundiger Versprechen abgegeben. Vielleicht<br />
auch zu viele. Einige ihrer Versprechen irritieren.<br />
Foto: © European Union, <strong>20</strong>19 von EC - Audiovisual Service; Etienne Ansotte<br />
Von den Startproblemen der neuen EU-Kommission war plötzlich<br />
keine Rede mehr. Eine Ursula von der Leyen ist Meisterin<br />
darin, jedes Malheur (wie die Ablehnung von drei Kommissar-Anwärtern)<br />
wegzulächeln. Anfang Dezember <strong>20</strong>19 trat sie vor<br />
die Kameras, flankiert von Parlamentspräsident David Mario Sassoli,<br />
dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und der<br />
EZB-Präsidentin Christine Lagarde, um ein mediales Zeichen zu setzen:<br />
Das sind Europas neue Schwergewichte! Es war ein Auftritt, mit<br />
dem die deutsche Langzeitministerin (14 Amtsjahre in drei Ressorts)<br />
ihre Unerfahrenheit auf EU-Ebene trefflich überspielte und zugleich<br />
unterstrich, dass es ihr an Selbstvertrauen nicht mangelt, wie Zitate<br />
aus ihrer ersten präsidialen Rede belegen: „Die Welt braucht unsere<br />
Führung mehr denn je. Meine Kommission wird sich nicht scheuen,<br />
selbstbewusst und bestimmt aufzutreten. Doch werden wir es auf<br />
unsere, die europäische Art tun. Dies ist eine geopolitische Kommission,<br />
die ich im Sinn habe und die Europa dringend braucht.“<br />
Konflikte programmiert<br />
Niemand bezweifelt, dass die auf dem Tisch liegenden Probleme wie<br />
Klimawandel, Zollstreit, Migrationspakt, Afrikapolitik oder Digitales<br />
eine erhebliche geopolitische Dimension haben. Aber bei all diesen<br />
Themen muss erst bewiesen werden, ob die EU so handlungsfähig<br />
ist, wie sie sein sollte. Und die neuen Brüsseler Machtverhältnisse<br />
machen die Suche nach tragfähigen Kompromissen nicht gerade<br />
leichter. Eine wichtige Scharnierfunktion kommt dabei den drei<br />
exekutiven Vizepräsidenten zu, die in ihren verschiedenen Parteifamilien<br />
das Machbare ausloten sollen. Der Sozialdemokrat Frans<br />
Timmermans, die Liberale Margrethe Vestager und Valdis Dombrovskis<br />
aus der Europäischen Volkspartei sind nicht nur als Fachpolitiker<br />
(Green Deal, Digitales und Wirtschaft) gefordert, sondern vor<br />
allem als Mediatoren und Vermittler zwischen parteipolitischen Fronten.<br />
Auf deren Kreativität und Können ist die neue Kommissionspräsidentin<br />
angewiesen. Zusätzlich wächst die Phalanx unberechenbarer<br />
Staatschefs wie aus Ungarn und Polen. Und auch Macron hat bei<br />
der Mazedonien-Abstimmung bewiesen, wie sehr er sich an nationalen<br />
Interessen orientiert. Die Konflikte sind hier programmiert.<br />
Werden rote Linien überschritten?<br />
Es liegt auf der Hand, dass die neue Kommission sich mit voller Kraft<br />
dem Klimaschutz zuwendet. Abgesehen von der Dringlichkeit erkennen<br />
viele darin eine Chance zur medienwirksamen Profilierung. Das<br />
Ziel, Europa im Jahr <strong>20</strong>50 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu<br />
machen, liegt ja in weiter Ferne. Aber Achtung, schon im Frühjahr<br />
wird dazu ein Gesetzespaket aus Brüssel erwartet. Kritische Stimmen<br />
aus der Wirtschaft sind noch überraschend leise. Erheblich lauter<br />
ist der Protest, wenn es um sozial- oder finanzpolitische Themen<br />
geht, bei denen von der Leyen gewillt scheint, rote Linien – wie sie<br />
besonders von deutscher Seite gezogen werden – zu überschreiten.<br />
Mit ihren Forderungen nach Flexibilität in der Finanzpolitik und<br />
bei der Verschuldung, für eine Bankenunion mit Einlagensicherung,<br />
für eine europäische Arbeitslosenversicherung und für europäische<br />
Mindestlöhne hat sie sich weit von den marktwirtschaftlichen Positionen<br />
ihrer eigenen Partei entfernt.<br />
Hoffnungsträger Breton<br />
Vorbeugend setzen mittelstandsorientierte Europaabgeordnete der<br />
EVP auf die Unterstützung eines liberalen Kommissars, um Schlimmeres<br />
zu verhindern. Es ist der Franzose Thierry Breton, der jetzt für<br />
das Herzstück der EU, den Binnenmarkt, zuständig ist und zugleich<br />
als KMU-Beauftragter agiert. Der 64-jährige Politiker, der als durchsetzungsstark<br />
gilt, hat bereits Gespräche mit dem Parlamentskreis<br />
<strong>Mittelstand</strong> (PKM Europe) geführt. Dabei war man sich einig, dass<br />
zentralistische Maßnahmen wie etwa ein EU-Mindestlohn die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der EU schwächen würden. Breton will den Bürokratieabbau<br />
und die Ausrichtung der Binnenmarktregeln auf kleine<br />
und mittlere Unternehmen vorantreiben. Die Arbeit des neuen<br />
KMU-Beauftragten<br />
soll von einer Task-<br />
Force, bestehend<br />
aus den Teams von<br />
drei Generaldirektionen,<br />
unterstützt werden.<br />
MdEP Dr. Markus<br />
Pieper, Sprecher<br />
des Parlamentskreises,<br />
lobt den Querschnittsansatz:<br />
„Wir<br />
setzen große Hoffnungen<br />
in die Strategie<br />
des neuen Kommissars,<br />
denn die Anliegen des <strong>Mittelstand</strong>es ziehen sich durch<br />
die gesamte EU-Gesetzgebung.“ Außerdem ist Breton für eines der<br />
wichtigsten Gesetzesvorhaben der neuen Kommission verantwortlich:<br />
das Gesetz für die Digitalwirtschaft. Dabei geht es darum, Europa<br />
in diesen Branchen voranzubringen und den Traum von der „europäischen<br />
Wolke“ Realität werden zu lassen. Ganz oben steht der<br />
Wunsch nach mehr Unabhängigkeit. Die vorhandenen Cloudnetze<br />
gehören fast alle zu US-amerikanischen Konzernen, Google & Co dominieren<br />
75 Prozent des Marktes. Auch hier muss Europa wettbewerbsfähiger<br />
werden – eine Leitlinie, von der die gesamte Kommissionspolitik<br />
dominiert werden sollte.<br />
Gut zu wissen<br />
Die politische Ämterverteilung:<br />
Zehn der 27 EU-Kommissare kommen aus<br />
der Europäischen Volkspartei, neun aus der<br />
Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE)<br />
und sechs aus der ALDE, Allianz der Liberalen<br />
und Demokraten für Europa. Der Kommissar<br />
aus Litauen gehört zu den Europäischen Grünen<br />
und der aus Polen zu den Europäischen<br />
Konservativen und Reformern (EKR). Es gibt<br />
drei exekutive Vizepräsidenten (s. o.) und<br />
fünf weitere Vizepräsidenten.<br />
EU-Kommissar Thierry Breton kümmert sich auch<br />
um KMU und soll sozialpolitischen Dirigismus verhindern.<br />
Rotger<br />
Kindermann<br />
Journalist<br />
mittelstand@<br />
bvmw.de