urbanLab Magazin 2021 - Transformation
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1. TRANSFORMATION<br />
THEMENÜBERGREIFEND DENKEN<br />
Vor über einhundert Jahren entwickelt<br />
der Philosoph und Mitbegründer der<br />
Soziologie Georg Simmel einen Gedanken,<br />
welcher für unser Verständnis der<br />
materiellen Welt als menschlicher Lebensraum<br />
noch immer von Bedeutung<br />
ist. So schreibt er in Der Begriff und die<br />
Tragödie der Kultur: „Ebenso steht es mit<br />
unserem praktisch-technischen Verhältnis<br />
zu den Dingen. Gewiss gestalten<br />
wir sie nur nach unseren Zwecken; allein<br />
sie sind diesen doch nicht absolut<br />
nachgiebig, sondern haben Inhalte und<br />
eine eigene Logik, durch deren Macht es<br />
zweifelhaft wird, ob unser Verfahren mit<br />
ihnen, durch einseitiges Interesse, Not<br />
oder Abwehr hervorgerufen, irgendwie<br />
in die Eigenrichtung unserer zentralen<br />
Entwicklung mündet“ (Simmel 2000:<br />
211). Simmel verdeutlicht hier, dass sich<br />
der Mensch eine Lebenswelt schafft,<br />
indem er die Dinge nach seinen Zwecken<br />
und Zielsetzungen gestaltet und<br />
einrichtet, hinterfragt aber zugleich, ob<br />
das, was die so geschaffenen Dinge machen,<br />
überhaupt mit diesen Zwecken<br />
deckungsgleich ist. Hier wird eine Eigendynamik<br />
der dinglichen, materiellen<br />
Welt angedeutet, die nicht auf die in sie<br />
eingeflossene menschliche Zwecksetzung<br />
und auch nicht auf gesellschaftlich<br />
geteilte Beziehungsmuster reduziert<br />
werden kann.<br />
Was diesen Gedanken für heutige Problemkomplexe<br />
so spannend macht, ist<br />
die Art und Weise, wie Beziehung hier<br />
gedacht wird. Denn Simmel geht nicht<br />
von einem einseitigen Beziehungsverhältnis<br />
aus, in dem die Dinge lediglich<br />
passive Verfügungsmasse für die<br />
menschliche Zwecksetzung sind, sondern<br />
er verdeutlicht, dass auch Dingbeziehungen<br />
als wechselseitiges und<br />
dynamisches Beziehungsgeschehen<br />
gedacht werden müssen, da die Dinge<br />
ein ebenfalls aktives Gegenüber zum<br />
menschlichen Handeln bilden. Was zunächst<br />
sehr theoretisch klingen mag,<br />
wird umso anschaulicher, bezieht man<br />
diesen Gedanken auf aktuelle Trends<br />
in der Entwicklung unserer materiellen<br />
Welt. Beispiele, wie die dezentrale Produktion<br />
von Pilzmöbeln aus Küchenabfällen,<br />
die Herstellung von smarten und<br />
responsiven Materialien, kompostierbare<br />
Biopolymere, aber auch Repariercafés,<br />
Upcycling und Kreislaufdenken<br />
verdeutlichen, dass sich die materielle<br />
Lebenswelt in einer grundlegenden<br />
<strong>Transformation</strong> befindet. Hier wird eine<br />
materielle Eigendynamik nicht nur wirksam,<br />
sondern auch in einer Weise genutzt,<br />
die nicht auf Beherrschung, sondern<br />
auf ein koproduktives Interagieren<br />
ausgerichtet ist. Zugleich steht dies aber<br />
auch im krassen Kontrast zur gegenwärtigen<br />
Verarmung an Beziehungsmöglichkeiten,<br />
von denen der Verlust<br />
an tradiertem Wissen – beispielsweise<br />
im Handwerk – die weitere Monotonisierung<br />
der Lebenswelt durch immer<br />
mehr digitale Oberflächen und die globale<br />
Mikroplastikflut in Folge der Plastifizierung<br />
unseres modernen Lebens<br />
nur einige Beispiele sind.<br />
Was sich hier nur kursorisch andeuten<br />
lässt, ist ein vielfältiges Gemenge an<br />
Dingen, Stoffen, Materialien, Abfällen<br />
und Resten, Praktiken und Eigendynamiken,<br />
das durch Beziehungen beeinflusst<br />
wird und seinerseits die Möglichkeit<br />
für Beziehung selbst strukturiert.<br />
<strong>Transformation</strong> der materiellen Welt<br />
heißt heute also mehr als bloßes Verfügen<br />
und Einrichten, sondern meint auch<br />
ein Sich-Arrangieren<br />
„<br />
mit dem, was bereits<br />
da ist und seinen Anforderungen.<br />
Um das, was hier im Entstehen begriffen<br />
ist, besser verstehen zu können,<br />
<strong>Transformation</strong> der materiellen<br />
Welt heißt heute also mehr als<br />
bloßes Verfügen und Einrichten, sondern meint<br />
auch ein Sich-Arrangieren mit dem, was bereits<br />
da ist und seinen Anforderungen.<br />
HUMAN CENTERED DESIGN<br />
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