Phänomen-Verlag Norina Ebele
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Immer öfter warfen mir meine Parteidogmatiker vor, dass ich “bourgeoise<br />
Tendenzen“ hätte – was ich wirklich ziemlich witzig fand, da ich der Einzige in<br />
unserer Zelle war, der nicht aus einem Mittelklasse‐Umfeld kam. Ich war der<br />
einzige Sohn des Proletariats in der Gruppe, und diese Mittelklasse‐Ideologen<br />
hatten nicht die leiseste Ahnung davon, wie ein wirklicher Arbeiter war. (Sie<br />
hätten alle nur ungern zugegeben, dass zum Beispiel viele Arbeiter den<br />
Antisemitismus meines Onkel Micks teilten.)<br />
Sobald ich aus dem Realitätstunnel der Marxisten raus war, gelobte ich den<br />
Prinzipien des Individualismus, der Gedankenfreiheit und des Agnostizismus<br />
Gefolgschaft. Von nun an, sagte ich, werde ich nicht von Gruppen hypnotisiert:<br />
Ich werde selber denken. Natürlich verbrachte ich über 20 Jahre, in denen ich<br />
verschiedenen intellektuellen und politischen Moden folgte, immer überzeugt,<br />
dass ich endlich der Gruppenkonditionierung entkommen war und angefangen<br />
hatte, “wirklich“ selber zu denken. Ich ging vom Agnostizismus zurück zum<br />
dogmatischen Atheismus und dann zum Buddhismus; ich hüpfte vom<br />
Existentialismus zum Neuen Linken Aktivismus, zum New‐Age‐Mystizismus<br />
und zurück zum Agnostizismus. Das Karussell drehte und drehte sich, aber ich<br />
fand nie einen Weg, es zu stoppen und auszusteigen, bis ich das mittlere Alter<br />
erreichte und so viel Acid genommen hatte, dass ich wirklich nur noch die Wahl<br />
hatte, selber zu denken oder verrückt zu werden.<br />
Der erste Dogmatismus, den ich übernahm, nachdem ich das Marxistische GS<br />
(Glaubenssystem) abgelehnt hatte, war Ayn Rands Philosophie (zu der Zeit noch<br />
nicht Objektivismus genannt). Der Ursprung sprach mich aus den gleichen<br />
Gründen an, aus denen er Dekade um Dekade entfremdete Pubertierende<br />
ansprach. (Der durchschnittliche jugendliche Leser von Also sprach Zarathustra<br />
entscheidet, dass er der Supermann ist, und der durchschnittliche jugendliche<br />
Randianer entscheidet, dass er ein entfremdetes Genie ist.) Wie die meisten<br />
Randianer lief ich einige Jahre herum und wiederholte gedankenlos Rands<br />
Dogma und stellte mir vor, dass ich ein “Individualist“ sei.<br />
Einige Jahre später, nachdem ich ein veröffentlichter Autor geworden war,<br />
wurde ich tatsächlich einmal eingeladen, Ayn Rand zu treffen. (Ich wurde “in<br />
ihre Gegenwart gerufen“, sagte Arlen.) Ich beichtete meine Zweifel an einigen<br />
von Rands Dogmen und wurde in die Dunkelheit hinausgeworfen, um für immer<br />
zu klagen und im Reich von Thud mit den Zähnen zu knirschen. Es war<br />
merkwürdig. Ich dachte, die Trots und Katholiken wären dogmatisch, aber Ayn<br />
Rand ließ im Vergleich beide Gruppen wie Vorbilder an Toleranz aussehen.<br />
Ich dachte, sie sei eine klinische Paranoide. Fast 30 Jahre später fand ich<br />
heraus, dass Rand einfach nur die ganze Zeit auf Speed war, was einen solch<br />
Paranoia‐ähnlichen Effekt hervorruft, dass sogar ausgebildete Ärzte nicht immer<br />
den Unterschied erkennen, und manche behaupten sogar, dass es keinen<br />
Unterschied gibt.<br />
Ohne Trotzki oder Ayn Rand als Gurus fing ich an, meine eigene Philosophie<br />
zu erfinden. Natürlich lieh ich mir das meiste unbewusst von Bertrand Russell,<br />
H. L. Mencken und Nietzsche...<br />
All dies geschah natürlich innerhalb des Netzwerks Sprache – die virtuelle<br />
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