Phänomen-Verlag Norina Ebele
Phänomen-Verlag Norina Ebele
Phänomen-Verlag Norina Ebele
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Den Namen des Herrn im Schmerz anrufen<br />
“Gott, Gott, Gott“, stöhnte ich.<br />
Dr. X – nicht seine richtige Initiale – fuhr fort, an meinem Brustkorb<br />
herumzudrücken. “Sie halten immer noch zurück“, sagte er und erhöhte den<br />
Druck.<br />
“GOTT“, schrie ich, richtigen Schmerz fühlend.<br />
“So geht das nicht“, sagte er ruhig. “Schreien Sie. Einen richtigen Schrei.“<br />
Ich versuchte zu schreien.<br />
“Sie werden nicht bestraft“, sagte er geduldig. “Hören Sie auf sich<br />
zurückzuhalten.“<br />
Ich versuchte es noch einmal. Er übte an einem neuen Punkt Druck aus.<br />
Plötzlich schrie ich wie ein verwundetes Tier. Das Geräusch erschreckte mich. Es<br />
schien vor‐menschlich, wie der Killermenschenaffe in Robert Ardreys Adam kam<br />
aus Afrika. Es war der Schrei eines Mörders, des Kannibalen, des “Kriegshelden“.<br />
“Genau so“, sagte er und übte mehr Duck aus. “Lassen Sie es raus... lassen Sie<br />
alles raus...“<br />
Ich schrie ein Holocaust und ein My Lai und fing dann an zu weinen, wie ich<br />
nie zuvor in meinem Leben geweint hatte. Er lockerte den Druck und betrachtete<br />
mich.<br />
Ich war in einer Reich‘schen Therapie, da mein vorheriger Therapeut mir zu<br />
jeder Menge wunderbarer Einsichten verholfen hatte, aber meine Ängste nie<br />
wirklich weggegangen waren. Dann hatte ich über Dr. Reich gelesen, als die<br />
Lebens‐ und Betäubungsmittelbehörde in sein Labor eingedrungen war, seine<br />
Ausstattung mit Äxten zerstört, seine Bücher verbrannt und ihn ins Gefängnis<br />
gesteckt hatte.<br />
Ich glaubte nicht, dass das der richtige Weg sei, wissenschaftliche Dispute<br />
auszutragen, deshalb fing ich an, mich für Dr. Reich zu interessieren. Schließlich<br />
beschloss ich, es mit der Reich‘schen Therapie zu versuchen.<br />
“Atmen Sie so, wie ich es Ihnen gezeigt habe“, sagte Dr. X.<br />
Ich versuchte es. Er drückte sanft auf meinen Magen. “Von hier“, sagte er.<br />
Ich fing an tief zu atmen, wobei ich ein wenig schluchzte.<br />
“Jetzt keine Tränen mehr“, sagte er. “Sie lernen Ihren Schmerz zu fühlen, aber<br />
Sie müssen auch lernen, Ihre Freude zu fühlen. Entspannen Sie sich einfach und<br />
atmen Sie.“<br />
Ich ließ die Tränen langsam versiegen und atmete. Er drückte wieder sanft auf<br />
Brust und Unterleib. Ich ließ mich tiefer in die Entspannung gleiten und fühlte<br />
das bekannte, warme pulsierende Pochen beginnen, so als wäre ich high. Aber<br />
ich war nicht high. Ich tat es, indem ich mich einfach nur entspannte – nachdem<br />
meine Muskeln sich entspannt hatten und meine Wut und Angst einen<br />
Ausdruck gefunden hatten.<br />
Das pulsierende Pochen wurde besser, sexueller. Ich schwebte in einer Art<br />
Glückseligkeit, die Freud prüde “polymorphe Perversität“ genannt hatte.<br />
Nach einem Augenblick fragte Dr. X: “Warum rufen Sie Gott an, wenn Sie das<br />
115