Phänomen-Verlag Norina Ebele
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Der Große, der das Gras grün macht<br />
Die Österreicher behaupten immer, dass Beethoven Österreicher war, obwohl er in<br />
Deutschland geboren wurde, und dass Hitler Deutscher war, obwohl er in<br />
Österreich geboren wurde.<br />
– Schweizer Witz<br />
Zwischen München und Berlin fuhr der Zug durch die DDR – die Deutsche<br />
Demokratische Republik, dort, wo ich herkomme, für gewöhnlich nur<br />
Ostdeutschland genannt. Es war das erste Mal, dass ich in einer so offen<br />
totalitaristischen Nation war, und sobald wir die Grenze überquerten und<br />
Marxwelt I betraten, war ich vorsichtig wie ein Hase im Fuchsterritorium. Es war<br />
1987 und ich war 55, schneeweiß auf dem Kopf, aber gebräunt und (so sagte mir<br />
die Eitelkeit) ansonsten jünger aussehend.<br />
In München hatte ich ein Seminar über Quantenpsychologie gehalten, und<br />
Tom, ein Fernsehproduzent, hatte mit mir einen Ausflug zu einem der Schlösser<br />
von Ludwig II. – dem “verrückten“ König von Bayern, der (wie<br />
Konspirationsverrückte behaupten) überhaupt nicht “verrückt“ war, sondern<br />
nur ein Pazifist, der den 1872er Krieg gegen Frankreich opponierte und deshalb<br />
von einer Verschwörung der Adligen ermordet wurde. 29 Ludwig, ein großer<br />
Förderer der Künste im Allgemeinen und Wagners mythischer Opern im<br />
Besonderen, erscheint in der gnostischen katholischen Messe, die von den<br />
Eingeweihten des Ordo Templi Orientis gefeiert wird, mysteriöserweise auch als<br />
einer der 114 “Heiligen“ des Gnostizismus. Ich wollte immer schon mehr über<br />
Ludwig den Verrückten herausfinden.<br />
Das Schloss war im Großen und Ganzen, “wie ich es erwartete“ (wie Oscar<br />
Wilde über die Niagarafälle sagte) – opulent, großartig, ein bisschen albern, etwa<br />
so subtil wie ein angreifendes Rhinozeros, merkwürdig schön: ein wahrer High‐<br />
camp‐Klassiker. Ob Ludwig verrückt war oder nicht, er war offensichtlich kein<br />
Mann, der vor dem Ausdruck “zu viel des Guten“ Angst gehabt hatte.<br />
Nun fuhren Tom und ich nach Berlin, wo er ein weiterer Gig für mich<br />
organisiert hatte, und wir waren, wie üblich, wenn wir zusammen waren, mehr<br />
als ein bisschen stoned. Als der Zug dann in die DDR einfuhr, sprang ich schnell<br />
auf und schloss das Fenster. Das half nicht.<br />
“Was zur Hölle ist das für ein Geruch?“, fragte ich.<br />
“Die DDR“, sagte Tom mit einem Berliner Schulterzucken, als ob er sagen<br />
wollte: Ist das nicht offensichtlich?<br />
“Ja, ja, ich weiß, dass das die DDR ist“, sagte ich. “Aber warum riecht es so?“<br />
Tom erklärte geduldig: Als die Kommunisten übernahmen, wollte Stalin<br />
schnell industrialisieren (er hatte den paranoiden Verdacht, dass die<br />
29. Historiker sind sich immer noch nicht einig, ob Ludwigs Tod durch<br />
Ertrinken, Selbstmord, Unfall oder Mord verursacht wurde.<br />
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