GESCHICHTESPAZIERGANG „Auf den Spuren jüdischen ... - Erinnern
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5.3 Material zur Familie Dichter<br />
5.3.1 Falter-Interview mit Walter Arlen<br />
Über Nacht waren alle Nazis 82<br />
Walter Arlen, 1920 in Wien geboren, erlebte 1938 die dramatische Enteignung und<br />
Vertreibung seiner Familie. Als Musikkritiker und Universitätsprofessor arbeitete<br />
Arlen in Los Angeles. Mit seiner Schwester Edith Arlen Wachtel wohnt er am 8. März<br />
der Eröffnung des Kunstprojektes „Säulen der Erinnerung“ bei, das seiner Familie im<br />
Ge<strong>den</strong>ken an alle Opfer des Nationalsozialismus gewidmet ist. Der Neubau, der<br />
heute an der Stelle des ehemaligen Kaufhauses Dichter, das von Arlens Familie<br />
betrieben wurde, entsteht, wird eine Ge<strong>den</strong>ktafel bekommen.<br />
Falter: Wie erinnern Sie sich an das Ottakring ihrer Kindheit?<br />
Walter Arlen: Ich bin in der Brunnengasse 40 geboren, im Warenhaus meiner<br />
Familie. Mein Großvater Leopold Dichter hat es 1890 gegründet. Es wurde das<br />
größte Kaufhaus der äußeren Bezirke, und wir hatten 85 Angestellte. Wir wohnten in<br />
demselben Gebäude. Unsere Familie besaß auch eine Villa in Sauerbrunn, wo wir<br />
immer auf Sommerfrische waren. Dort hatte ich ein Klavier.<br />
Sie waren ein musikalisches Kind?<br />
Ja, ich habe sehr gern gesungen. Mein Großvater hat mich schon mit fünf zu dem<br />
berühmten Schubert-Forscher Otto Erich Deutsch gebracht. Der stellte bei mir das<br />
absolute Gehör fest und schickte mich zu einer Klavierlehrerin. Wir hatten ein<br />
Grammophon, und ich habe mir die Lieder gemerkt. Im Geschäft war das eine<br />
Sensation. Dort haben sie mich auf die Budel gestellt und aufgefordert: „Walter, sing<br />
was!“ Eines der Lieder war zum Beispiel „Wenn die letzte Blaue fährt“. Meine letzte<br />
Komposition von vor zehn Jahren basiert auf diesem Schlager.<br />
In Ottakring gab es damals viel Textilindustrie. War das Kaufhaus darauf<br />
spezialisiert?<br />
Nein, wir führten alles. Parfums, Lederwaren, Spielzeug, Schulhefte, Bekleidung und<br />
so weiter. Meine Großmutter saß gleich am Eingang an der Kassa. Wenn ich in der<br />
Schule brav war, bekam ich von ihr einen Schilling.<br />
Haben Sie schon damals Antisemitismus erlebt?<br />
Als Kind nicht, aber im Gymnasium wurde ich beleidigt und verhaut. Es gab auch<br />
einen Professor, der im Unterricht über die Ju<strong>den</strong> schimpfte. Ich war von klein auf<br />
eingeschüchtert. Man hatte irgendwie das Gefühl, dass man als Jude ein<br />
Untermensch ist. Merkwürdig, dass auch die Kirche diese Idee gefördert hat. Ich bin<br />
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