Johannes Tauler - DAS REICH GOTTES IN UNS - geistiges licht
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Dabei mag er die Weisen und Hilfen, die ihn innerlich wie äußerlich am meisten zu göttlicher Liebe<br />
und zum Guttun reizen, üben, bis sie von selbst wegfallen.<br />
Und würde ihm dabei auch etwas Höheres zu erkennen gegeben, soll er doch vor seinem vierzigsten<br />
Lebensjahr allzu großem Frieden und Reichtum äußerlich wie innerlich und zu großer<br />
Abgeschiedenheit nicht zu sehr vertrauen; denn dazu ist er noch zu sehr der Natur verhaftet. Er soll<br />
sich statt dessen der tätigen Liebe zuwenden, innerlich und äußerlich, und zugleich seine<br />
Bedürfnisse ständig verringern. Gregorius sagt, daß die Priester im Alten Bunde erst mit fünfzig<br />
Jahren Hüter des Tempels wurden.<br />
Aber in welchem Alter auch immer der Mensch, als Frucht ständiger Einwärtswendung und<br />
schweigenden Weiterschreitens auf dem Wege nach innen, sich in den inneren Frieden und die<br />
liebende Hingabe an Gott einsenkt, in jedem Falle wird ihm im Einswerden der Reichtum der<br />
göttlichen Gaben zuteil.<br />
Aber alle diese Gaben sollen ihm immer nur Mittel sein, noch inniger und innerlicher Gottes<br />
Wohnung und Werkzeug zu werden und zu bleiben. Das meint Dionysius: "Laßt alle sinnlichen und<br />
übersinnlichen Werke und alles Erkennenwollen und überlaßt euch völlig dem Einssein mit Gott,<br />
das über alles Verstehen hinausgeht."<br />
Erst wenn der Mensch alle Dinge und sich selbst in allen Dingen gelassen hat, kann er Gott folgen<br />
– mit dem äußeren Menschen in allen Übungen und Tugenden und in gleicher Liebe zu allen<br />
Wesen, und mit dem inneren Menschen im Lassen seiner selbst und aller Dinge, als ob er sie nie<br />
erhalten hätte.<br />
Das werde recht verstanden: Auf dem Wege nach innen sind etliche Dinge zu tun und etliche zu<br />
lassen. Man soll die Dinge weder haben noch an ihnen haften mit dem Gefühl, sie zu besitzen. Nun<br />
ist aber aller Menschen Natur geneigt, zu haben, zu wissen und zu wollen. Da helfen nun sechs<br />
Kräfte, von denen drei zu den unteren gehören: Demut, Sanftmut und Geduld, und drei zu den<br />
oberen: Glaube, Zuversicht und Liebe.<br />
Nun geht der Glaube hin und entzieht der Vernunft all ihr Wissen und macht sie blind, damit sie<br />
dem Wissen entsage. Dann kommt die Zuversicht und nimmt die Sicherheit und das Haben. Und<br />
endlich kommt die Liebe und beraubt den Willen alles Selbstgefundenen und alles Besitzes.<br />
Danach kommen die drei unteren Kräfte: die Demut läßt das Ich so völlig in den Seelengrund<br />
entsinken, daß es seinen Namen verliert und in seiner Nichtheit nichts mehr von Demut weiß. Die<br />
Sanftmut hat die Liebe allen Eigenwillens beraubt, so daß ihr alle Dinge gleich sind und sie sich<br />
nicht mehr bewußt ist, Tugend zu haben. Sie ist mit allen in Frieden. Die Tugend hat hier ihren<br />
Namen verloren und ist Wesen geworden. Und ebenso ist es mit der Geduld: der Mensch liebt und<br />
läßt in Gelassenheit und ist sich seiner Geduld nicht mehr bewußt.<br />
In dieser Gelassenheit mag es ihm dennoch geschehen, daß er einmal ungelassen wird und ihm ein<br />
harsches Wort entfährt.<br />
Darüber soll er nicht erschrecken, sondern soll noch tiefer in sein Nichts entsinken. Jede erkannte<br />
Schwäche soll ihn in sein Nichts weisen und ihm Anlaß sein, den Weg nach innen noch beharrlicher<br />
bis in den tiefsten Grund hinab zu gehen – dorthin, wo der Pfad immer steiler und finsterer wird.<br />
Das meint Christi Wort: "Folge mir nach, gehe unberührt durch alle Dinge, denn alles das bin ich<br />
nicht. Gehe vorwärts, folge mir, gehe vorwärts!" Und wenn der Mensch fragen würde: "Herr, wer<br />
bist Du, daß ich Dir so in die Tiefe und Einsamkeit folgen soll?", so würde er antworten: "Ich bin<br />
Mensch und Gott."<br />
Könnte ihm nun das, was im Menschen noch ,Mensch' ist, hierauf in seinem tiefsten Grunde<br />
antworten: "So bin ich nichts und weniger als nichts", dann könnte der Durchbruch geschehen.<br />
Denn die namenlose Gottheit hat ihre ureigene Wirkungsstätte nur im Grunde des Nichtseins, wo<br />
das Ich entwird.