Johannes Tauler - DAS REICH GOTTES IN UNS - geistiges licht
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VOM SEELENGRUND<br />
"Ein Schriftgelehrter versuchte ihn und fragte: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben<br />
ererbe?<br />
Er aber sprach: Wie steht im Gesetz geschrieben?<br />
Und der Schriftgelehrte antwortete: ,Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von<br />
ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte, und deinen Nächsten wie dich selbst.'<br />
Jesus aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben." Luk. 10; 25 f.<br />
Wer des ewigen Lebens teilhaftig werden will, muß drei Zeugnissen folgen: das erste kommt von<br />
Gott, das zweite aus seinem Seelengrund, das dritte aus der Heiligen Schrift.<br />
Der Schriftgelehrte folgte nur einem, auf das ihn Jesus hinwies, und wußte nichts von den bei den<br />
anderen, nichts von dem inneren Adel, der im Grunde der Seele verborgen ist, von der<br />
Verwandtschaft seines innersten Wesens mit dem göttlichen Wesen, und von der Seligkeit des<br />
Seelengrundes, der den Zugang bildet zum göttlichen Urgrund; und darum wußte er auch nichts von<br />
Gott.<br />
Von diesem inneren Adel und Seelengrund haben viele Meister gesprochen, alte und neue, von<br />
Bischof Albrecht bis Meister Eckehart. Der erstere nennt den Seelengrund ein Bild, in dem die<br />
göttliche Dreieinigkeit sich verbirgt; der letztere spricht vom göttlichen Funken im Seelengrund, der<br />
nicht ruht, bevor er nicht wieder in den Gottesgrund zurückgekehrt ist, dem er entsprungen ist und<br />
in dem er in seiner Ungeschaffenheit war.<br />
Hiervon haben schon vor Christi Geburt und vor den Heiligen und Lehrern der Christenheit auch<br />
andere große Meister gesprochen wie Plato, Aristoteles und Proclus, die vom Innenadel wußten und<br />
vom Seelengrund kündeten. Was sie und gleich ihnen die Lehrer der Christenheit bis zu Meister<br />
Eckehart kündeten, ist dies:<br />
Die Seele hat einen Funken, einen Grund in sich, dessen Verlangen und Durst Gott mit nichts<br />
anderem zu löschen vermag als mit sich selbst. Gäbe er ihr auch alle Dinge, die er je schuf im<br />
Himmel und auf Erden es genügte ihr nicht und vermöchte sie nicht zu sättigen. Das ist ihr von<br />
Natur inne.<br />
Diesen Seelengrund und dieses Sehnen verkennen jene, die nur um ihren äußeren Menschen wissen.<br />
Darum schmecken ihnen die göttlichen Dinge nicht. Wie groß wird ihre Not sein, wenn sie an ihrem<br />
Ende gewahr werden, daß sie ihren natürlichen Adel verkannt und unermeßliches Gut übersehen<br />
und versäumt haben! Sie finden den Zugang nicht zum Reime Gottes.<br />
Wenn jemand kommt, der tiefer sieht, sie vor dem Irrweg warnt und ihnen helfen will, den Weg<br />
nach innen zu gehen und zu sich selbst zu finden, verspotten sie ihn und sagen: "Hier ist ein neuer<br />
Geist gekommen; doch er ist uns zu hoch." Denn sie wollen sich nicht vom neuen Geist erfüllen<br />
lassen, wollen sich nicht lassen, sich nicht dem Lichte Gottes überlassen, sondern gehen weiter<br />
ihren Weg ins Dunkel.<br />
Welcher Weg nun führt zum Seelengrund und zu jener Gottschau, die den Jüngern zuteil ward,<br />
wovon im gleichen Kapitel gesagt wird: "Selig die Augen, die sehen, was ihr sehet; denn viele<br />
Propheten und Könige wollten sehen, was ihr sehet, und haben's nicht gesehen."<br />
Diese Propheten und Könige sind die weltweisen, hochgelehrten, selbstbewußten, mit Macht und<br />
Einfluß ausgestatteten Menschen, die trotz Kenntnis aller Übungen und Weisen nicht sehen, was die<br />
Jünger, die zur Nachfolge und Hingabe Bereiten, sahen.<br />
Und warum sehen sie nicht? Sie wollten sehen. Was sie bewegte, war ihr Eigenwille. In eben<br />
diesem Eigenwillen aber liegt das Hindernis. Der Wille bedeckt die inneren Augen, die rein sein<br />
müssen von allem Wollen und Nichtwollen, wenn sie sehen sollen. Im Willen äußert sich vor allem