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Nietzsche: Jenseits von Gut und Bose / Zur Genealogie der Moral

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inhalt gemachte Missverstehen -Wollen des Leidens,<br />

dessen Umdeutung in Schuld-, Furcht- <strong>und</strong> Strargefühle;<br />

überall die Geissei, das härene Hemd, <strong>der</strong> verhungernde<br />

Leib, die Zerknirschung; überall das Sich -selbst -Rä<strong>der</strong>n<br />

des Sün<strong>der</strong>s in dem grausamen Rä<strong>der</strong>werk eines<br />

unruhigen, krankhaft -lüsternen Gewissens; überall die<br />

stumme Qual, die äusserste Furcht, die Agonie des<br />

gemarterten Herzens, die Krämpfe eines unbekannten<br />

Glücks, <strong>der</strong> Schrei nach „Erlösung". In <strong>der</strong> That, mit<br />

diesem System <strong>von</strong> Prozeduren war die alte Depression,<br />

Schwere <strong>und</strong> Müdigkeit gründlich überw<strong>und</strong>en, das<br />

Leben wurde wie<strong>der</strong> sehr interessant:<br />

wach, ewig wach,<br />

übernächtig, glühend, verkohlt, erschöpft <strong>und</strong> doch nicht<br />

müde — so nahm sich <strong>der</strong> Mensch aus, „<strong>der</strong> Sün<strong>der</strong>", <strong>der</strong><br />

in diese Mysterien eingeweiht war. Dieser alte grosse<br />

Zauberer im Kampf mit <strong>der</strong> Unlust, <strong>der</strong> asketische<br />

Priester — er hatte ersichtlich gesiegt, sein Reich war<br />

gekommen: schon klagte man nicht mehr gegen den<br />

Schmerz, man lechzte nach dem Schmerz; „mehr<br />

Schmerz! mehr Schmerz!" so schrie das Verlangen seiner<br />

Jünger <strong>und</strong> Eingeweihten Jahrh<strong>und</strong>erte lang.<br />

Jede Ausschweifung<br />

des Gefühls, die wehe that. Alles was zerbrach,<br />

umwarf, zermalmte, entrückte, verzückte, das<br />

Geheimniss <strong>der</strong> Folterstätten,<br />

die Erfindsamkeit <strong>der</strong> Hölle<br />

selbst — Alles war nunmehr entdeckt, errathen, ausgenützt,<br />

Alles stand dem Zauberer zu Diensten, Alles<br />

diente für<strong>der</strong>hin dem Siege seines Ideals, des asketischen<br />

Ideals . . . „Mein Reich ist nicht <strong>von</strong> dieser Welt" —<br />

redete er nach wie vor: hatte er wirklich das Recht<br />

noch, so zu reden? . . . Goethe hat behauptet, es gäbe<br />

nur sechs <strong>und</strong> dreissig tragische Situationen: man erräth<br />

daraus,<br />

wenn man's sonst nicht wüsste, dass Goethe kein<br />

asketischer Priester war. Der — kennt mehr . . .

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