Selbstverwaltung
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aktualisierte Form der traditionellen Produktivgenossenschaften anzusehen sind. Demgegenüber<br />
vertreten andere, meist soziologische Autoren und Autorinnen die Meinung, dass selbstverwaltete<br />
Betriebe als materielle Infrastruktur oder „ökonomische Organisationseinheiten“ der neuen<br />
sozialen Bewegungen geschaffen wurden und Teil der neuen sozialen Bewegungen geblieben<br />
sind. Ausschlaggebend für die Gründung von alternativen Betrieben sind in ihrem Verständnis<br />
der gesellschaftliche Wertewandel aufgrund der veränderten sozioökonomischen Bedingungen<br />
und die „doppelte Krise der Erwerbsarbeit“ (Berger 1985). Demzufolge werden bei der sozialwissenschaftlichen<br />
Untersuchung von selbstverwalteten Betrieben einerseits Konzepte der Bewegungsforschung<br />
miteinbezogen, andererseits sollen die empirischen Ergebnisse über alternative<br />
Beschäftigungsformen zum besseren Verständnis der neuen sozialen Bewegungen beitragen 50 .<br />
3.4.4.2. Die neuen sozialen Bewegungen als Forschungsgegenstand<br />
In Folge der Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre hat sich die Sozialwissenschaft mit dem<br />
Phänomen der so genannten neuen sozialen Bewegungen zu befassen begonnen 51 . Während soziale<br />
Bewegung an sich eine Erscheinung ist, die „seit der Französischen Revolution durch veränderte<br />
gesellschaftliche Bedingungen hervorgebracht wird und Einfluss auf den Gang der Geschichte<br />
hat“ (Raschke 1985: 11), handelt es sich bei den neuen sozialen Bewegungen um ein<br />
„raum-zeitlich eingrenzbares Phänomen, das mit der Phase des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus<br />
in den 1960er und 1970er Jahren entsteht und zu diesem eine grundsätzlich ambivalente<br />
Haltung hat“ (Rucht 1994: 153). Allerdings fehlt innerhalb der Forschung eine klare und einheitliche<br />
Definition des Forschungsgegenstandes 52 .<br />
Ausgangspunkt der Diskussion um die neuen sozialen Bewegungen ist die Frage, ob es sich dabei<br />
um einen „Bruch der Modernität“ oder um eine „(vorübergehende) Anpassungskrise des<br />
Modernisierungsprozesses“ (Brand et al. 1983: 17) handelt. Strittig bleibt dabei die gesellschaftstheoretische<br />
Verortung der neuen sozialen Bewegungen, „die Erklärung ihres Entstehungszusammenhangs,<br />
die Interpretation ihrer kulturellen, sozialen und politischen Funktion im<br />
Rahmen des strukturellen Transformationsprozesses westlicher Gesellschaften und die Prognosen<br />
über ihre weiteren Entwicklungsperspektiven" (Brand 1989: 126). Entgegengesetzte Ansichten<br />
werden auch in der Frage, ob es sich bei den neuen sozialen Bewegungen wirklich um eine<br />
historisch neue Erscheinung handelt, vertreten 53 . Weitgehende Einigkeit herrscht einzig bezüglich<br />
50 Selbstverwaltete Betriebe gehören zu den gut erfassbaren Erscheinungen der neuen sozialen Bewegungen; im Gegensatz<br />
zu informellen Gruppen sind sie beschreibbar und zählbar.<br />
51 Letztlich hat die Bewegungsforschung ihre Wurzeln aber in der Aufklärung, die einen „Aufbruch in die Moderne“<br />
darstellt (Hellmann 1999: 92). Neben den Arbeiten von Karl Marx haben vor allem diejenigen Le Bons zur Massenpsychologie<br />
einen entscheidenden Einfluss auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit den sozialen Bewegungen<br />
gehabt: „Vereinfacht gesagt stellen Marxismus und Massenpsychologie die beiden Extreme zu Beginn der Bewegungsforschung<br />
dar, da sie soziale Bewegungen von gänzlich unterschiedlichen Positionen aus gedacht haben“<br />
(Hellmann 1999: 94). Im Gegensatz zu den USA war der Erforschung der sozialen Bewegungen in der europäischen<br />
Sozialforschung bis in die 1970er Jahre ein Schattendasein beschieden. Erst mit dem Aufkommen der neuen sozialen<br />
Bewegungen erhielt die Bewegungsforschung in Europa Aufschwung (vgl. Raschke 1985: 13f. und Rucht 1994: 73f.).<br />
52 So stellt beispielsweise Schneider (1989: 196) fest: „Wie kaum in einer anderen sozialwissenschaftlichen Disziplin<br />
ist in der Bewegungsforschung der Forschungsgegenstand vage und widersprüchlich abgegrenzt.“<br />
53 So sprechen einige Autoren und Autorinnen (z.B. Berger et al. 1975 oder Bell 1979) den neuen sozialen Bewegungen<br />
ihre Neuheit pauschal ab, andere Autoren dagegen (z.B. Touraine 1984 und Raschke 1985) betonen das Neue an den<br />
neuen sozialen Bewegungen und sprechen ihnen eine historisch bedeutsame Rolle zu. Daneben gibt es aber auch Ansätze,<br />
die Aspekte der Kontinuität und Diskontinuität hervorheben (Brand 1987 und 1989, Hirsch/Roth 1986,<br />
Rucht 1994).