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Chronik 2018

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Umgang mit der NS-Vergangenheit bis in die 1960er Jahre<br />

Die DGVS-Präsidenten zwischen 1950 und 1969 gehörten zu den Generationen, die<br />

zwischen 1887 und 1908 geboren waren, ihre medizinische Ausbildung vor der<br />

Zeit des Nationalsozialismus erhalten hatten und wesentlich durch den Ersten<br />

Weltkrieg sowie durch Erfahrungen in der Weimarer Republik geprägt waren. Sie<br />

kannten die vertriebenen jüdischen Kolleginnen und Kollegen von den gemeinsamen<br />

Kongressen und durch die Publikationen in den Fachzeitschriften und sie<br />

erlebten deren Ausschluss aus der Fachgesellschaft 1933. Nach 1945 waren sie in<br />

leitenden Positionen an Universitätskliniken und großen Städtischen Krankenhäusern<br />

tätig und hatten als Repräsentanten der DGVS maßgeblich Einfluss auf<br />

den Umgang mit der Vergangenheit zwischen 1933 und 1945. Sie waren jedoch<br />

nicht in der Lage, offen über das Geschehene zu sprechen; es waren Erfahrungen,<br />

die für sie möglicherweise unaussprechlich waren. Ohne Zweifel wurde mit dem<br />

Wiederaufbau der Kliniken, der Wiederaufnahme der Forschungsaktivitäten und<br />

der Wiederherstellung internationaler Kontakte Großes geleistet. Die Vergangenheit<br />

wurde mit Schweigen und, wenn nötig, mit Apologetik übergangen. Erst mit<br />

wachsendem Abstand zu den Kriegsereignissen und nach mehreren Generationswechseln<br />

begann ab den 1970er Jahren eine Periode zunehmender kritischer Aufarbeitung<br />

der NS-Vergangenheit, die freilich nicht abgeschlossen ist.<br />

Für die erste Phase nach 1945, jenen Zeitraum des Schweigens, sind die Memoiren<br />

von Gustav von Bergmann, 1953 publiziert, exemplarisch. Auf den 318 Seiten<br />

erwähnt er die Geschehnisse seit 1933 und die Vertreibung seiner jüdischen<br />

Mitarbeiter mit keinem Wort: Ȇber die gottlob vergangene Zeit will ich nichts<br />

sagen, ich will nur das erzählen, was mich und meine Familie betroffen hat […]an<br />

jene sich überstürzenden Geschehnisse darf ich für mich und die Meinen nur mit<br />

einer Art Dankbarkeit zurückdenken, denn von meiner engeren Familie und von<br />

meinen engeren Freunden habe ich niemanden verloren, und niemand aus diesem<br />

Personenkreis ist dem Dritten Reich gegenüber in eine verhängnisvolle Situation<br />

gekommen.«99<br />

Hans Heinrich Berg, von 1934 bis 1960 Ordinarius für Innere Medizin an der<br />

Universität Hamburg, fand bei der ersten Tagung der Gesellschaft für Verdauungs-<br />

und Stoffwechselkrankheiten nach dem Zweiten Weltkrieg 1950 in Bad Kissingen<br />

ebenfalls keine Worte für die Vergangenheit. Er sprach lediglich allgemein<br />

von »einem Jahrzehnt, angefüllt durch düstere und schmerzlichste Ereignisse«100.<br />

Auf das Schicksal der jüdischen Gastroenterologen ging er nicht ein; bei<br />

dem Gedenken an die seit 1938 Verstorbenen nannte er zwar den früheren langjährigen<br />

Generalsekretär der Gesellschaft von den Velden, dessen Emigration erwähnte<br />

er nicht.101 Berg hatte wegweisend und international anerkannt zur Röntgentechnik<br />

und radiologischen Diagnostik des Intestinaltraktes geforscht und<br />

seit den 1920er Jahren im Archiv publiziert, zu dessen Mitherausgeberkreis er seit<br />

1934 gehörte. Er erhielt 1958 als einer der wenigen Deutschen nach Adolf Kußmaul,<br />

Wilhelm v. Leube, Carl Anton Ewald, Ismar Boas und Bernhard Naunyn die<br />

Ehrenmitgliedschaft der American Gastroenterological Association (AGA).102 Als<br />

Oberarzt in der II. Medizinischen Klinik der Charité Berlin erlebte Berg seit 1927<br />

die Entwicklung in der Gastroenterologie sehr direkt mit. Berg selbst hatte wäh-<br />

103 Richard Schatzki (1901 − 1992)<br />

war 1926 / 27 für 15 Monate Mitarbeiter<br />

Bergs in der Frankfurter<br />

Medizinischen Universitätsklinik.<br />

Er musste 1933 in die USA emigrieren<br />

und war in Boston und später<br />

in Cambridge / USA tätig; von ihm<br />

stammt die radiologische Beschreibung<br />

von Oesophagus- und<br />

Magenvarizen; eine Ringstruktur<br />

im distalen Oesophagus ist nach<br />

ihm benannt. Vgl. Schatzki SC.<br />

Richard Schatzki, M. D. A. biography.<br />

A J R 1988; 150: 508 − 509<br />

und Haubrich WS. Schatzki of<br />

Schatzki ring. Gastroenterology<br />

2006; 131: 1668. Alice Ettinger<br />

(1899 − 1993) wurde 1932<br />

von H. H. Berg von Berlin nach<br />

Boston geschickt, um dort die<br />

Röntgentechnik der Zielaufnahmen<br />

bekannt zu machen. Ettinger<br />

kehrte nicht nach Deutschland<br />

zurück. Sie wurde Ende der<br />

1950er Jahre Inhaberin des ersten<br />

Lehrstuhls für Radiologie an der<br />

Tufts University School of Medicine<br />

in Boston. Vgl. www.nlm.nih.<br />

gov/changingthefaceofmedicine/<br />

physicians/biography_105.html<br />

(5.2.2013).<br />

104 Nissen R. Helle Blätter –<br />

dunkle Blätter; 301.<br />

105 So hat H. Kalk anlässlich seiner<br />

Eröffnungsrede zur 20. Tagung<br />

1959 von »völlig ungerechtfertigten<br />

Beschuldigungen« gegenüber<br />

Kurt Gutzeit gesprochen. Kalk<br />

bezeichnete Gutzeit als »hervorragenden<br />

Forscher, begeisterten<br />

akademischen Lehrer und großen<br />

Arzt«. In: Classen M, Hg. Tagungen<br />

der Deutschen Gesellschaft;<br />

129.<br />

106 Martini P. Eröffnungsansprache<br />

des Vorsitzenden, 1948. In:<br />

Hundert Jahre Deutsche Gesellschaft<br />

für Innere Medizin, Eröffnungsreden;<br />

597 − 609. Vgl.<br />

Thannhauser SJ. Paul Martini<br />

zum 70. Geburtstag. Dtsch Med<br />

Wochenschr 1959; 84: 154 – 155.<br />

Paul Martini war von 1932 bis<br />

1959 Ordinarius für Innere Medizin<br />

an der Universität Bonn und<br />

verhielt sich distanziert gegenüber<br />

dem Nationalsozialismus. Von ihm<br />

stammt das Werk Methodenlehre<br />

der therapeutischen Untersuchung,<br />

in dem er Prinzipien kontrollierter<br />

Studien und evidenzbasierter<br />

Medizin vorwegnahm. P. Martini<br />

war seit 1929 Mitglied der Gesellschaft<br />

für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten.<br />

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