Sven Giegold / Dagmar Embshoff (Hrsg.) Solidarische ... - VSA Verlag
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116 <strong>Solidarische</strong> Ökonomie und Lebensstil aus individueller Perspektive<br />
Sündenböcke. Diese falschen Selbstbeschuldigen werden noch einmal verstärkt<br />
durch die Reden der wirtschaftlichen und politischen Eliten und der Medien,<br />
die – wie z.B. bei Hartz IV – die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit<br />
bekämpfen. Hier spricht die Psychologie vom »Desorientierungstrauma«, d.h.<br />
die Opfer werden ein zweites Mal zu Opfern gemacht.<br />
Wichtig sind hier die sogenannten Zeugen oder »Dritten«, die die Wahrheit<br />
aussprechen – ein oft ungehörter Aufruf an die Kirchen, solche Zeugen der Wahrheit<br />
zu sein, statt sich an die Sprachregelung der neoliberalen Eliten anzupassen.<br />
Das Ergebnis ist, dass nur ein Teil der »Resignierten« aus der Unterschicht (ca.<br />
6% der Bevölkerung) noch etwas von der Kirche hält. Hier setzt sich der Trend<br />
aus dem 19. Jahrhundert fort, in dem sich die Arbeiterklasse von der Kirche<br />
im Stich gelassen fühlt – ganz im Gegensatz zu den biblischen Grundlagen der<br />
Kirche, in denen klar die Armgemachten im Vordergrund stehen.<br />
Die GewinnerInnen hingegen betrachten sich zu etwa 50% der Kirche verbunden!<br />
Psychologisch gesehen erliegen sie – in Wechselwirkung mit dem System,<br />
das nur den belohnt, der gewinnt – der wachsenden Sucht nach »Mehr-Haben«.<br />
Der dadurch genährte »pathologische Narzissmus« verführt sie dazu, ihre eigene<br />
Größe durch die Erniedrigung der Anderen zu steigern. Der persönliche Preis,<br />
den sie dafür zahlen, ist die Zerstörung ihrer Gesamtpersönlichkeit. Sie spalten<br />
sich – wie z.B. an SpitzenmanagerInnen zu beobachten – in ein sentimentales<br />
und ein brutales »Ich«. Jesus hat diese Unmöglichkeit des Menschwerdens der<br />
Reichen im Sinn Gottes mit seinem Bildwort ausgedrückt, es sei schwerer für<br />
Reiche ins Reich Gottes zu kommen, als ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe<br />
– außer sie kehren um wie Zachäus, der sich durch die Begegnung mit Jesus<br />
von seinem Reichtum befreien lässt.<br />
In dieser Situation ist es eine zentrale Frage für die Zukunft unserer Gesellschaft,<br />
ja unserer Erde, wie sich die Mittelklassen verhalten werden. Sie stellen<br />
noch die Mehrheit unserer Bevölkerung im Norden dar. Der Neoliberalismus hat<br />
aber begonnen, sie weltweit in eine Mehrheit von VerliererInnen und eine Minderheit<br />
von GewinnerInnen zu spalten. Argentinien ist das klassische Beispiel.<br />
Dort gehörten vor der Einführung der neoliberalen Wirtschaft und Politik 60%<br />
zur Mittelklasse, danach 60% zu den Menschen unterhalb der Armutsgrenze.<br />
In Deutschland werden alle, die aus den Mittelklassen strukturell erwerbslos<br />
werden, u.a. durch Hartz IV auf das Niveau der Sozialhilfe gestoßen. So prägt<br />
die Angst vor dem Absturz in allen westlichen Ländern die Mittelklasse. Wie<br />
reagiert sie darauf? Sie ist durch ihre Herkunft und Geschichte wie auch durch<br />
die genannten psychischen Mechanismen nach oben orientiert. Sie entwickelt das<br />
illusionäre Bewusstsein, dass die Ursache der Misere nicht »die da oben« sein<br />
können, sondern dass sie selbst oder Sündenböcke »schuld sind«. So breiten sich<br />
in ihr Depressionen und z.B. Fremdenhass aus. Aus der deutschen Geschichte