Sven Giegold / Dagmar Embshoff (Hrsg.) Solidarische ... - VSA Verlag
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Kai Ehlers: Impulse aus dem Osten?<br />
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zu gewinnen, wie Alternativen zwischen Privatwirtschaft und Zwangskollektivismus<br />
aussehen können.<br />
Die nach-sowjetische Umwandlung hat nicht so stattgefunden, wie von den<br />
BefürworterInnen der Privatisierung vorausgesagt. Stattdessen zerstörte die<br />
Privatisierung die bestehende Arbeits- und Lebensorganisation, insbesondere<br />
die Strukturen der Fürsorge und der sozialen Sicherung. Die große Mehrheit<br />
der Bevölkerung geriet in existenzielle Unsicherheit. Zwischen 20% und 30%<br />
der Bevölkerung rutschte unter das Existenzminimum. Trotz dieser Krise brach<br />
keine allgemeine Hungerkatastrophe aus. Warum nicht? Weil die Bevölkerung<br />
auf gewachsene Strukturen der informellen Wirtschaft und der Selbstversorgung<br />
zurückgreifen konnte. Statt der von den ReformerInnen gewollten Kapitalisierung<br />
des Lebens entstanden wirtschaftliche Mischformen, die nicht mehr<br />
sowjet-sozialistisch, aber auch nicht privatkapitalistisch sind. In ihr gehen die traditionelle<br />
russische Bauerngemeinschaft (Obschtschina) die Kollektivwirtschaft<br />
sowjetischen Typs und die heutige Marktorientierung eine hochinteressante<br />
Verbindung ein. Weit entfernt davon, sich vollkommen aufzulösen, wird hier so<br />
etwas wie eine Alternative zu dem bisherigen Entweder-Oder von Kapitalismus<br />
oder Sozialismus sichtbar.<br />
Kern dessen ist eine Symbiose zwischen Lohnarbeit und der in Russland so<br />
genannten familiären Zusatzwirtschaft, die durch ein um die Betriebe herum<br />
organisiertes System der Vergütung miteinander verbunden sind. Dieses System<br />
ist nicht erst durch die Bolschewiki eingeführt worden. Es ist vielmehr in der<br />
langen Geschichte Russlands entstanden, in deren Verlauf sich das bäuerliche<br />
Gemeineigentum, die Allmende, im Gegensatz zum Westen nicht aufgelöst hat,<br />
sondern zum Grundmuster des Lebens wurde. Unter Stalin wurde der russische<br />
Kollektivismus nicht erfunden, sondern verstaatlicht. Die Bevölkerung wurde<br />
gewissermaßen von ihren eigenen Traditionen enteignet; ihre eigenen Basisstrukturen<br />
traten ihr als fremde Macht, als Zwangskollektiv, entgegen. Diese<br />
Entwicklung führte in die stalinsche Repression und letztlich in die Stagnation.<br />
Mit der Aufl ösung der sowjetischen Union wurde sie gesprengt. Was blieb und<br />
trotz aller aktuellen Versuche der Monetarisierung bisher nicht gesprengt werden<br />
konnte, ist die Grundstruktur von Lohnarbeit, Vergütung und Zusatzwirtschaft.<br />
In diesem Modell griffen die drei Elemente so ineinander, dass das eine das<br />
andere stützte.<br />
Lohn wurde nach Leistung gezahlt, ergänzt durch Möglichkeiten des Zusatzverdienstes.<br />
Arbeit wurde jedoch nicht nur in Geld entlohnt, sondern zu einem<br />
großen Teil auch über Verrechnungen mit dem betrieblichen Lohnfonds, aus<br />
dem die Grundlebensbedürfnisse der Betriebsmitglieder und ihrer Familien<br />
sowie der gesamte kommunale Lebensbedarf getragen wurden. Das begann<br />
beim Wohn- und Lebensraum, umfasste Kindergarten, Schule, Bildung, medi-