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Sven Giegold / Dagmar Embshoff (Hrsg.) Solidarische ... - VSA Verlag

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Kai Ehlers: Impulse aus dem Osten?<br />

163<br />

zu gewinnen, wie Alternativen zwischen Privatwirtschaft und Zwangskollektivismus<br />

aussehen können.<br />

Die nach-sowjetische Umwandlung hat nicht so stattgefunden, wie von den<br />

BefürworterInnen der Privatisierung vorausgesagt. Stattdessen zerstörte die<br />

Privatisierung die bestehende Arbeits- und Lebensorganisation, insbesondere<br />

die Strukturen der Fürsorge und der sozialen Sicherung. Die große Mehrheit<br />

der Bevölkerung geriet in existenzielle Unsicherheit. Zwischen 20% und 30%<br />

der Bevölkerung rutschte unter das Existenzminimum. Trotz dieser Krise brach<br />

keine allgemeine Hungerkatastrophe aus. Warum nicht? Weil die Bevölkerung<br />

auf gewachsene Strukturen der informellen Wirtschaft und der Selbstversorgung<br />

zurückgreifen konnte. Statt der von den ReformerInnen gewollten Kapitalisierung<br />

des Lebens entstanden wirtschaftliche Mischformen, die nicht mehr<br />

sowjet-sozialistisch, aber auch nicht privatkapitalistisch sind. In ihr gehen die traditionelle<br />

russische Bauerngemeinschaft (Obschtschina) die Kollektivwirtschaft<br />

sowjetischen Typs und die heutige Marktorientierung eine hochinteressante<br />

Verbindung ein. Weit entfernt davon, sich vollkommen aufzulösen, wird hier so<br />

etwas wie eine Alternative zu dem bisherigen Entweder-Oder von Kapitalismus<br />

oder Sozialismus sichtbar.<br />

Kern dessen ist eine Symbiose zwischen Lohnarbeit und der in Russland so<br />

genannten familiären Zusatzwirtschaft, die durch ein um die Betriebe herum<br />

organisiertes System der Vergütung miteinander verbunden sind. Dieses System<br />

ist nicht erst durch die Bolschewiki eingeführt worden. Es ist vielmehr in der<br />

langen Geschichte Russlands entstanden, in deren Verlauf sich das bäuerliche<br />

Gemeineigentum, die Allmende, im Gegensatz zum Westen nicht aufgelöst hat,<br />

sondern zum Grundmuster des Lebens wurde. Unter Stalin wurde der russische<br />

Kollektivismus nicht erfunden, sondern verstaatlicht. Die Bevölkerung wurde<br />

gewissermaßen von ihren eigenen Traditionen enteignet; ihre eigenen Basisstrukturen<br />

traten ihr als fremde Macht, als Zwangskollektiv, entgegen. Diese<br />

Entwicklung führte in die stalinsche Repression und letztlich in die Stagnation.<br />

Mit der Aufl ösung der sowjetischen Union wurde sie gesprengt. Was blieb und<br />

trotz aller aktuellen Versuche der Monetarisierung bisher nicht gesprengt werden<br />

konnte, ist die Grundstruktur von Lohnarbeit, Vergütung und Zusatzwirtschaft.<br />

In diesem Modell griffen die drei Elemente so ineinander, dass das eine das<br />

andere stützte.<br />

Lohn wurde nach Leistung gezahlt, ergänzt durch Möglichkeiten des Zusatzverdienstes.<br />

Arbeit wurde jedoch nicht nur in Geld entlohnt, sondern zu einem<br />

großen Teil auch über Verrechnungen mit dem betrieblichen Lohnfonds, aus<br />

dem die Grundlebensbedürfnisse der Betriebsmitglieder und ihrer Familien<br />

sowie der gesamte kommunale Lebensbedarf getragen wurden. Das begann<br />

beim Wohn- und Lebensraum, umfasste Kindergarten, Schule, Bildung, medi-

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