PDF-Datei: Pädagogische Anthropologie - Egon Schütz Archiv
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ausprägen. Herders Überzeugung ist: sie werden gelernt - nicht<br />
aber nur von jemandem, der bereits über sie verfügt, sondern<br />
sie sind in ihrem Ursprung Lernergebnisse aus NotSituationen.<br />
Die Kunsttätigkeiten des Menschen insgesamt sind gelernte Antworten<br />
auf prekäre Lebenssituationen, die dadurch entstehen,<br />
daß der Mensch nicht in eine bestimmte Umwelt fest eingefügt<br />
ist, sondern sich seine Umwelt allererst als spezifische Umwelt<br />
künstlich schaffen muß. Der Mensch ist also von Natur aus<br />
ein Kunstwesen, und er ist deshalb ein Kunstwesen, weil das Bewußtsein<br />
von Nöten, die er abwehren muß, zum Standard seiner<br />
Existenz gehört. Die These, der Mensch sei ganz und gar Kunst,<br />
korrespondiert mit der These, daß er ganz und gar ein nothaft<br />
existierendes Wesen ist. Erst jetzt wird ganz verständlich, was<br />
Herder meint, wenn er sagt: „Mit dem aufrechten Gang wurde der<br />
Mensch ein Kunstgeschöpf, denn durch ihn, die erste und schwerste<br />
Kunst, die ein Mensch lernet, wird er eingeweihet,alle zu<br />
lernen und gleichsam eine lebendige Kunst zu werden." (a.a.O.<br />
S. 114) Der aufrechte Gang - das Sich-Auf richten - ist für Herder<br />
die Ur-handlung des Menschen, in der er sich elementar<br />
als Kunstgeschöpf konstituiert, um fortan sein Vesen als<br />
Kunst zu praktizieren. Die Urhandlung des Sich-Aufrichtens ist<br />
die gattungsgeschichtliche und biographische Selbststiftung des<br />
Menschen als Mensch. Sie hat die symbolische Qualität des Ausgangs<br />
aus dem Paradies, der zugleich Freiheit und Not bedeutet.<br />
Wenn auch Herders physiologische und morphologische Konstruktionen<br />
der Konsequenzen, die sich aus der Aufgerichtetheit des<br />
Menschen ergeben (Hirnverlagerung, Schädelbildung usf.)» unter<br />
wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht überzeugen mögen - der<br />
Signal- und Symbolwert ist durchaus beträchtlich, und zwar vor<br />
allem als Akzentuierung des elementaren Sachverhalts, daß der<br />
Mensch darauf angelegt sei, „lebendige Kunst" zu sein, d.h. sich<br />
im bewußten Handeln mit der Erde zu verbinden, von der er sich<br />
durch den aufrechten Gang nicht nur tatsächlich, sondern auch<br />
im übertragenen Sinne erhoben hat.