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hiermit zum Kurier der Ministerin für besondere Aufgaben.<br />
Die Briefe sind ausschließlich für die Prinzessin bestimmt,<br />
niemand sonst darf sie in die Finger bekommen. Die Seitenpforte<br />
an der Schlossmauer habe ich dir beschrieben, dort<br />
wartest du einfach, bis Raben hindurchfliegen. Sprich einen<br />
an und nenne meinen Namen, dann wird er dich direkt zu<br />
Amelie bringen.«<br />
»Wie wird mich diese Prinzessin empfangen?« fragte Lara<br />
zaudernd. »Ist sie genau so nett zu mir wie du? Wird sie mich<br />
nicht verachten, weil ich nur eine Räubertochter bin?«<br />
»Oh nein, keine Bange«, beruhigte Grete. »Sowohl Amelie<br />
als auch ihr lieber Hans kennen die Menschen. Wenn du<br />
ihnen artig entgegen trittst, werden sie dich bald so mögen<br />
wie ich und sie werden für dich sorgen.«<br />
»Aber ich hab Angst«, jammerte Lara nun, »zumindest<br />
ein kleines bisschen. Ich hab noch nie so was gemacht, und<br />
das noch ganz allein. Du fehlst mir schon jetzt, ich hab dich<br />
doch so lieb.«<br />
»Ich dich auch.« Grete lächelte, beugte sich zu Lara hinüber<br />
und drückte ihr einen langen, fast schon unschwesterlichen<br />
Kuss auf die bebenden Lippen. »Du bist jung und schön,<br />
du hast Feuer unter dem Hintern, du bist klug und hast ein<br />
edles Herz. Diesen Auftrag wirst du mit Leichtigkeit erledigen,<br />
das weiß ich. Also, meine Süße, nur Mut! Dem Mutigen gehört<br />
die Welt!« Dann gab sie Laras Pferd einen Klaps und es setzte<br />
sich in Bewegung. »Wir werden uns wiedersehen, das habe ich<br />
im Gefühl! Und grüß mir das Prinzenpaar … und die Raben<br />
… und …!«, rief sie der Freundin noch hinterher.<br />
Aber Lara hörte es nicht mehr. Sie spornte ihr Ross und<br />
ritt gen Süden. Grete sollte nicht sehen, dass sie weinte. Nicht<br />
schon wieder.<br />
»Na, dann los!«, sagte Grete zu Schneewind, »dann<br />
zeigen Sie mir mal, was Sie können. Nach Norden, Finnland,<br />
wir kommen!« Danach blieben ihr die Worte weg, denn die<br />
Geschwindigkeit, die ein magisches Tier wie Schneewind<br />
erreicht, übertrifft die eines Pferdes bei Weitem. Der Fahrtwind<br />
– oder war’s die Trennung? – trieb ihr die Tränen in<br />
die Augen, was ihr die Sicht nahm und sie veranlasste, ihr<br />
Haupt mit einem dicken Schal zu verhüllen. Nur Fliegen ist<br />
schöner, dachte sie, und sie ahnte nicht, wie nahe sie damit<br />
der Wahrheit kam.<br />
Fünfte Geschichte: Die Heilerin<br />
Das Einzige, was Grete von der Fahrt mitbekam, war die<br />
furchtbare Kälte. Gegen die Witterung in Finnland kam ihr<br />
der Winter der Heimat wie ein laues Wetterchen vor. Zwar<br />
waren ihre Finger, mit denen sie sich am Geschirr des Rentieres<br />
festklammerte, durch Handschuhe geschützt, doch<br />
irgendwann konnte sie ihre Hände nicht mehr spüren und<br />
sie verlor jegliches Zeitgefühl. Doch alles hat einmal ein<br />
Ende, und Schneewind kam unter Holpern und Rutschen<br />
zum Stehen. Grete war so steif, dass sie fast von ihrem Reittier<br />
gefallen wäre.<br />
Sie waren am Rande einer kleinen Ortschaft vor einer<br />
windschiefen Hütte angelangt. Überall lag hoher Schnee. So<br />
viel war es, dass die Menschen ihn mit Karren und Schlitten<br />
wegschaffen mussten, um Hauseingänge und Straßen<br />
einigermaßen freizuhalten. Die Tür der Hütte öffnete sich<br />
und eine ältere, hagere Frau trat heraus. Ihre Augen weiteten<br />
sich erstaunt.<br />
»Schneewind?«, fragte sie zögernd und dann:<br />
»Schneewind! Du bist wieder da! Wie habe ich dich vermisst!<br />
Aber du bist nicht allein, wen hast du denn da mitgebracht?«<br />
»Oh, Frau Esmeralda«, antwortete das Rentier, »auch ich<br />
bin froh, Sie wieder zu sehen. Leider wurde ich unterwegs<br />
lange Zeit äh … aufgehalten. Doch vergaß ich nicht Ihre<br />
letzten verzweifelten Worte, als ich seinerzeit aufbrach. Darf<br />
ich ihnen das Edelfräulein Grete vorstellen? Ihr neues Lehrmädchen!«<br />
Lehrmädchen? Grete dämmerte es, dass es wohl noch eine<br />
Zeit dauern würde, bis sie Karl zu Gesicht bekäme. Nicht,<br />
dass sie etwas gegen das Lernen gehabt hätte. Die meisten<br />
jungen Menschen ihres Alters absolvierten eine Lehre. Aber<br />
man hätte ja wenigstens mal fragen können. Noch während<br />
derlei Gedanken ihr Gehirn durchtosten, hatte Frau Esmeralda<br />
sowohl sie als auch das Rentier in die Hütte geschoben<br />
und die Tür geschlossen. Schneewind ließ sich auf einem<br />
Heuhaufen in einer Zimmerecke nieder, während Grete an<br />
einen Tisch geführt, auf einen Stuhl gesetzt und aus den<br />
dicken Kleidern geschält wurde. Die hagere Frau, sie hatte<br />
eine einfache Kittelschürze an und die kastanienbraunen<br />
Haare, in denen sich bereits graue Strähnen zeigten, streng<br />
zurückgekämmt und hinten zu einem »Dutt« zusammen<br />
gefügt, goss Tee auf – echten, aufmunternden Tee, dem sie<br />
aus einer Flasche einen gehörigen Schluck Rum hinzufügte.<br />
»Trink das«, sagte sie, »und nimm Schneewind das<br />
›Lehrmädchen‹ nicht krumm, wenngleich …« Sie ließ den<br />
Satz unvollendet.<br />
Die halb erfrorene Grete genoss den Tee und blickte sich<br />
um. Seltsam, ihr kam es vor, als sei allein dieser Raum schon<br />
größer als die Hütte von außen aussah. Und dann gingen<br />
noch weitere Türen zu anderen Räumen ab, was völlig unmöglich<br />
war. Die Wand mit der Heuecke wurde durch einen<br />
mächtigen Kamin beherrscht, wo an verschiedenen Haken<br />
Kessel hingen, in denen unbekannte Essenzen still vor sich<br />
hinbrodelten. Von den Deckenbalken hingen Kräuterbündel<br />
in großen Mengen. An den Wänden erblickte sie Regale mit<br />
Gläsern, Flaschen, Dosen und anderen Behältnissen, in<br />
No. 2 • Mai 2009 andromeda extended magazine www.sfcd.eu • p. 103