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ten sie sich so, als ob sie es gewesen wären, so gut kannten<br />

und verstanden sie sich.<br />

Der Junge hieß Karl, er hatte dunkelbraune Haare, die bis<br />

auf seine Schultern fielen, eine schöne Gestalt und stahlgraue<br />

Augen, das Mädchen Margarete, aber es wurde von Anfang<br />

an nur Gretchen gerufen. Seine welligen Haare waren<br />

von hellerem Braun als Karls, jedoch hinten zu einem Zopf<br />

geflochten, der bis zum Po reichte. Große haselnussbraune<br />

Augen blickten aus einem herzförmigen Gesichtchen und der<br />

Mund sah aus, als deute er ein Lächeln an, was oft den Eindruck<br />

vermittelte, als wüsste das Kind etwas, was andere nicht<br />

wissen. Zueinander gelangten die Kinder über die Giebelfenster.<br />

Der Abstand zwischen ihnen war gering, man brauchte<br />

nur auf die Dachrinne zu steigen, dann konnte man mit einem<br />

großen Schritt von einem zu dem anderen Fenster gelangen.<br />

An schönen Tagen tobten sie mit anderen Kindern<br />

durch die Gassen oder auf den nahe gelegenen Wiesen, an<br />

trüben Tagen jedoch besuchten sie sich gegenseitig. Armer<br />

Leute Kinder haben nicht viel Spielzeug, und sie hatten ansonsten<br />

nur den Erwachsenen ein paar Würfel- und Kartenspiele<br />

abgeluchst. In Ermangelung nennenswerter irdischer<br />

Güter wurden Letztere schnell langweilig, dann gab es zwei<br />

Möglichkeiten: entweder Karls Großmutter aufzusuchen, wo<br />

man sich flegelhaft hinlümmeln durfte und süße Limonade,<br />

welche die alte Dame zusammenbraute, zu naschen bekam.<br />

Dazu erzählte die Großmutter die fantastischsten Geschichten,<br />

aber sie hatte auch ein Märchenbuch, und manchmal<br />

las sie daraus vor. Dann verging die Zeit wie im Flug. Oder<br />

aber die beiden Früchtchen schlüpften unter die nächste Bettdecke<br />

und betrieben dort das, was sie als »Doktorspiele« bezeichneten<br />

und was immer so anspannend und prickelnd<br />

war. Oh, dieses Herzklopfen! Danach ging’s dann wohin? Natürlich<br />

zur Großmutter, die den beiden in die hochroten Ge-<br />

sichter blickte, in die Küche schlurfte und dort einen Tee<br />

braute. Sie nahm dazu Hanfblätter. Hanf war wohl so etwas<br />

Ähnliches wie des armen Mannes Sonnenschein; Knechte<br />

vom Lande verkauften die Blätter, wenn sie in die Stadt kamen,<br />

denn aus den Fasern der Stängel wurden Seile gemacht.<br />

Die Papas rauchten das Zeug manchmal, sie nannten<br />

es Knaster, aber für die Kinder war das nichts, das kratzte zu<br />

sehr im Hals. Großmutters Tee jedoch wirkte ungemein entspannend.<br />

Der Winter schränkte solche Besuche etwas ein. Die Fenster<br />

waren oft zugefroren, die Dachrinnen vereist, und die Eltern<br />

waren öfter zuhause. Um sich zu sehen, musste man den<br />

»riesigen« und für unter aller Würde gehaltenen »Umweg«<br />

von Haustür zu Haustür nehmen.<br />

Wenn es draußen schneite, saßen die Kinder oft bei der<br />

Großmutter. Eines Tages deutete sie auf die Schneeflocken<br />

und meinte: »Das sind die kleinen weißen Mädchen, die<br />

schwärmen.«<br />

Karl, in Gedanken an die Bienen aus dem Biologiebuch<br />

versunken, fragte: »Haben sie auch eine Königin?«<br />

»Die haben sie«, sagte die Großmutter, »sie ist die schönste<br />

und größte von allen, und wenn sie zu den Fenstern<br />

hineinblickt, dann gefrieren diese und es gibt Eisblumen.«<br />

»Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?«, fragte<br />

Gretchen.<br />

»Lass sie nur kommen«, sagte Karl uncharmant, »dann<br />

mache ich ihr einen warmen Einlauf, dass sie schmilzt.«<br />

Am Abend, als Karl zuhause und halb entkleidet war,<br />

kletterte er auf den Stuhl am Fenster, hauchte sich ein Guckloch<br />

in die Eisblumen und sah hinaus. Draußen fielen<br />

Schneeflocken, und wie der märchenhafte Zufall es wollte,<br />

fiel eine sehr große auf den Rand eines Blumenkastens, sie<br />

wuchs mehr und mehr und formte sich zu einem wunder-<br />

schönen Mädchen, bekleidet nur von feinsten Eiskristallen.<br />

Ihr Körper war zierlich und fein, ihre Haut fast gläsern als sei<br />

sie gefroren. Weiße glatte Haare umrahmten ein schmales<br />

Gesicht mit zwei Augen, eisblau, wie tiefe kalte Seen aber<br />

voller Unruhe, eine kleine, gerade Nase und ein schmallippiges<br />

Lächeln. Es nickte dem Jungen zu und winkte mit<br />

der Hand. Karl, dessen Karlemann zwischen seinen Beinen<br />

beim Anblick jenes zauberhaften Wesens unruhig zu schwellen<br />

begann, erschrak jedoch bei der Bewegung und sprang<br />

vom Stuhl. Da war es, als ob draußen ein großer Vogel<br />

vorbeiflöge – verschwunden war die Erscheinung.<br />

Bald wurde es Frühling, die Sonne schien und das Grün<br />

kam hervor. Die Kinder besuchten sich wieder über die Fenster<br />

oder sie spielten mit anderen in den Gassen oder auf nahe<br />

gelegenen Wiesen. Der Sommer kam mit herrlich warmen<br />

Tagen und die beiden Wildfänge wünschten sich, sie würden<br />

nie vergehen. Eines Nachmittags, die Kinder hatten im Müll<br />

ein Büchlein gefunden mit Bildern von nackigen Männern<br />

und Frauen und sie amüsierten sich köstlich darüber, die<br />

Uhr schlug gerade fünf, da zuckte Karl jäh zusammen.<br />

»Au! Irgendwas stach mir ins Herz und nun flog mir auch<br />

noch etwas ins Auge!«<br />

Gretchen sah sofort nach, konnte jedoch nichts entdecken.<br />

Kein Wunder, denn es handelte sich um zwei Splitter des zerborstenen<br />

Ideo-Logischen Spiegels. Karl hingegen, derart<br />

getroffen, fuhr unvermittelt Gretchen an: »Hör auf, an mir<br />

rumzumachen, mir fehlt nichts!« Und als dem Mädchen ob<br />

der groben Rede die Tränen kamen, gab er noch einen drauf:<br />

»Du siehst hässlich aus, wenn du weinst. Hör auf mit dem<br />

Geflenne!« Und als sein Blick auf das Buch mit den nackigen<br />

Leuten fiel, schrie er: »Pfui Teufel, das ist ja Pornografie! So<br />

ein Schweinkram! Also, ich hab keine Lust, mit dummen<br />

kleinen Mädchen zu spielen, ich geh nach Hause.« Er tat es<br />

No. 2 • Mai 2009 andromeda extended magazine www.sfcd.eu • p. 85

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