300-dpi - p.machinery
300-dpi - p.machinery
300-dpi - p.machinery
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Die Zeit verstrich, ohne dass Karl etwas davon merkte. Des<br />
Tags saß er zu Füßen der Schneekönigin und versuchte<br />
merkwürdige Puzzles aus buntem Eis zusammenzufügen,<br />
die sie ihm aufgab. Nachts, wenn der Sturm heulte und<br />
brauste, wenn es war, als sänge er alte Lieder, bestieg die<br />
Königin mit ihm den Schlitten und los ging’s über Wälder<br />
und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der<br />
kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee funkelte, über ihnen<br />
flogen die schwarzen, krächzenden Krähen dahin. Aber<br />
hoch oben schien der Mond groß und klar und Karl betrachtete<br />
ihn lange. Die junge Frau an seiner Seite, sie war<br />
sehr schön, ein klügeres, lieblicheres Geschöpf konnte er sich<br />
nicht vorstellen. In seinen Augen war sie vollkommen.<br />
Wenn Karl schlief, begab sich die Schneekönigin manchmal<br />
in ihr geheimes Sanktuarium. Dort standen in einem<br />
Regal eine Reihe von verschlossenen Gläsern, in denen etwas<br />
wie weißer Dampf wallte. Dann blickte sie sich verträumt um<br />
und dachte: Nur noch sieben kurze Jahre, dann ist es so weit.<br />
Dabei führte sie ein Glas, welches noch fast leer war, an ihren<br />
Mund und hauchte das Ergebnis ihrer Küsse hinein: »Deine<br />
Küsse – mein Schatz.«<br />
So geschah es, dass Karl das Gretchen, die Großmutter, die<br />
Eltern, die Schule, die Freunde, die Stadt und sein gesamtes<br />
bisheriges Leben im Bann der Schneekönigin vergaß.<br />
Zweite Geschichte: Das Haus der Donna Matrona<br />
Aber wie erging es dem Gretchen, als Karl nicht zurückkehrte?<br />
Keiner wusste, wo er geblieben war. Niemand konnte Bescheid<br />
geben. Er galt als vermisst und man munkelte, er sei<br />
verschleppt oder gar tot. Das Mädchen weinte viel und lange.<br />
Nun kam das Frühjahr mit warmem Sonnenschein und<br />
Schwalben.<br />
»Ist Karl tot?«, fragte Gretchen.<br />
»Das glaube ich nicht«, antwortete der Sonnenschein.<br />
»Ist Karl tot?«, fragte das Kind die Schwalben.<br />
»Das glauben wir nicht«, erwiderten diese.<br />
Am Ende glaubte Gretchen es auch nicht. Da manche<br />
Leute meinten, Karl sei vielleicht im Fluss ertrunken, beschloss<br />
es, zum Fluss zu gehen und ihn zu fragen.<br />
»Ist es wahr, dass du meinen Freund genommen hast?«<br />
Da kam ihm vor, als verneinten die Wellen sonderbar,<br />
doch um es genau zu hören, kroch das Kind in ein Boot, das<br />
im Schilfe lag. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei<br />
der Bewegung, die Gretchen verursachte, glitt es vom Lande<br />
ab. Bald trieb es im Fluss schnell dahin. Hübsch war es an<br />
beiden Ufern, blühende Wiesen, alte Bäume und Abhänge<br />
mit weidenden Schafen und Kühen zogen vorüber. Ab und zu<br />
winkte ein Mensch zum Boot herüber, welches jedoch ungerührt<br />
weitertrieb. Irgendwann lullte der warme Sonnenschein<br />
das Mädchen ein und es versank in tiefen Schlaf.<br />
»Was für ein Blümchen haben wir denn da?«<br />
Erschrocken blinzelte Gretchen in die schwindende<br />
Abendsonne, um den Ursprung der Stimme zu erkennen. Am<br />
Bug des Bootes hatte sich der Griff eines Sonnenschirms verhakt,<br />
dessen anderes Ende sich in den Händen einer sehr<br />
vornehm aussehenden älteren Dame befand – längst nicht<br />
so alt wie Karls Großmutter –, die das Boot energisch an<br />
Land zog.<br />
»Ich scheine wirklich eine große Anziehungskraft auf<br />
arme, alleinstehende junge Dinger auszuüben«, seufzte die<br />
Dame, während sie der Kleinen aus dem Kahn half, »Gott<br />
sei’s getrommelt und gepfiffen«, setzte sie fast unhörbar und<br />
leise lächelnd fort, während sie ihren Fang beäugte. »Ich bin<br />
die Donna Matrona, freie Unternehmerin und Geschäftsfrau<br />
und wer bist du?«<br />
Gretchen besah ihr Gegenüber genauer. Die Frisur der<br />
Dame sah sehr blond und überaus hochgetürmt aus, gekrönt<br />
von einem blütenbestückten extravaganten Hut. Bestimmt<br />
war sie Malerin, zumindest kannte sie sich mit Farben aus,<br />
die auf ihrem Gesicht plakativ verteilt waren: Die Wangen<br />
waren belegt mit Rouge, die Lippen sehr rot und die Augenbrauen<br />
fein mit Farbstift nachgezogen. Der Sonnenschirm<br />
bewahrte den weißen Teint. Ihre Kleider, fast schon Gewänder,<br />
die ihre füllige Figur bedeckten, bestanden aus Stoffen,<br />
wofür Gretchens Eltern ein Jahr hätten schuften müssen,<br />
um auch nur eine Elle davon zu kaufen. An den Schmuck,<br />
der von Hals, Ohren und Fingern der Dame glitzerte, wollte<br />
das Mädchen gar nicht denken. Insgesamt wirkte die Erscheinung<br />
jedoch freundlich, hilfsbereit und fast aufrichtig.<br />
»Nun lass uns ins Haus gehen, du bist bestimmt hungrig«,<br />
meinte die Donna und winkte dem Mädchen zu folgen.<br />
»Und ich bin davon überzeugt, du wirst mir eine interessante<br />
Geschichte erzählen.«<br />
Vom Flussufer ging ein schmaler Fußpfad hangaufwärts<br />
zu einer Hecke, worin sich eine kleine Gartentür nahezu verbarg.<br />
Die Dame öffnete das Türchen und schon befanden<br />
sich die beiden im schönsten Blumengarten, den Gretchen je<br />
gesehen hatte. Donna Matrona verlangsamte ihren Schritt.<br />
»Schau«, hub sie an, »ist dieses Blütenmeer nicht prächtig?<br />
Ich kenne jede einzelne Blume, ihre Farbe, ihren Duft,<br />
ihren Charakter.« Sie nahm einen tiefen Atemzug. Dann<br />
musste sie plötzlich kichern. »Gewissermaßen könnte ich<br />
diesen Garten mit meinem Unternehmen vergleichen«,<br />
meinte sie lächelnd, während sie sich halb zu Gretchen umdrehte.<br />
»Aber du bist noch entschieden zu jung für so was.«<br />
Während Gretchen noch über die Bedeutung von ›so was‹<br />
nachgrübelte, waren sie an der Rückseite eines ansehnlichen<br />
Hauses angekommen und Minuten später saß es schon mit<br />
No. 2 • Mai 2009 andromeda extended magazine www.sfcd.eu • p. 87