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Doch nun ist es kein Mädchen mehr.<br />

Nicht länger ist es Gretchen mehr.<br />

Das ›chen‹, es ist verschwunden,<br />

die Kindheit überwunden.<br />

Schaut alle hin und schaut genau:<br />

Vor euch steht eine junge Frau!<br />

Kraa-kraa!«<br />

»Und eine sehr hübsche dazu«, kommentierte der Prinz<br />

trocken, »soweit man sehen kann.«<br />

Für Gretchen war das alles zu viel. Seit dem Nachmittag<br />

hatte es weder gegessen noch getrunken und war ständig auf<br />

Achse gewesen. Die Schmerzen im Unterleib taten ein Übriges<br />

und der letzte Gedanke war: Von nun an bin ich Grete. Ihr<br />

wurde schwarz vor Augen und sie sank wie leblos auf den<br />

Teppich.<br />

Irgendwann in der Nacht kam Grete zu sich und stellte<br />

fest, dass sie in dem großen Bett zwischen Prinz und Prinzessin<br />

lag. Jemand hatte sie entkleidet, gewaschen, versorgt<br />

und mit einem Nachthemd versehen. Sie tastete umher und<br />

hielt plötzlich etwas in der Hand. Oh! »Weitermachen«,<br />

nuschelte der Prinz in sein Kissen, doch Grete zog die Hand<br />

zurück. Nur nicht in Beziehungen einmischen. Und schon<br />

war sie auch wieder eingeschlafen.<br />

Der nächste Morgen erblickte das Trio bei Tisch in einem<br />

Zimmer, wo ausschließlich das Frühstück verzehrt wurde.<br />

Diener in Gold huschten hin und her, stellten hier ein volles<br />

Tablett auf die Tafel, nahmen dort ein leeres fort. Neu für<br />

Grete war ein heißes, schwarzes, bitteres Getränk, welches<br />

anregend wirkte und das sie Kaffee nannten. Mit etwas<br />

Zucker konnte man den gut genießen. Von Amelie am<br />

Morgen ganz neu mit Bergen von fabelhaften Kleidern für<br />

jede Gelegenheit eingekleidet, genoss Grete das Frühstück in<br />

vollen Zügen. Zuhause hatte es aus einem Stück Brot und<br />

einem Glas Wasser bestanden; bei Donna Matrona war es<br />

schon opulenter gewesen, doch für das hier gab es keinen<br />

Vergleich. Selbstverständlich durften auch Gerald von Rabenklau<br />

und seine geliebte Melissa Rumburak nicht fehlen. Und<br />

das, obwohl Gerald sich nur ungern in geschlossenen Räumen<br />

aufhielt, denn er war ja kein zahmer Rabe. Doch so lange<br />

offene Fenster des Schlosses seine Bewegungsfreiheit garantierten,<br />

fühlte er sich einigermaßen sicher. Natürlich hatten<br />

die geschwätzigen Vögel Gretes Geschichte noch in der<br />

Nacht lang und breit vorgetragen und man unterhielt sich<br />

nun darüber. Auch hier stellte sich heraus: Es würde einige<br />

Zeit dauern, bis, falls überhaupt, man etwas über den Verbleib<br />

von Karl erfahren würde, der als spurlos verschwunden<br />

galt. Diese Zeit, so baten Hans und Amelie inständig, möge<br />

Grete das Leben mit ihnen teilen, denn die junge Frau hatte<br />

vom ersten Moment an die Herzen des Paares erobert. Grete<br />

sagte mit Freuden zu, denn ihr schien, als könne sie durch<br />

den Aufenthalt im Schloss noch viel lernen. Zumal der<br />

Winter nahte, der das Reisen nahezu unmöglich machte.<br />

Wie die Runde nun also da saß und es sich wohlergehen<br />

ließ, gab es plötzlich Lärm an der Tür und eine Wache in<br />

Silber kam scheppernd herbeigestürzt und meldete: »Seine<br />

Majestät, der …«, weiter kam der Wachmann nicht, denn da<br />

wurde er von hinten umgestoßen und ging klirrend zu<br />

Boden. Dahinter wurde ein kleiner dicker Mann mit unrasiertem<br />

Gesicht sichtbar, bekleidet mit einem bunten Morgenmantel.<br />

Die grauen Haare standen in alle Richtungen,<br />

soweit eine schief auf dem Haupt sitzende Krone es erlaubte.<br />

In der einen Hand schwenkte er eine Zeitung, in der anderen<br />

einen Kneifer. Man konnte meinen, er bekäme gleich einen<br />

Herzschlag.<br />

»Was hast du getan?«, schrie er mit hochrotem Gesicht an<br />

seine Tochter gewandt und knallte die Zeitung auf den Tisch.<br />

»Du hast Wahlen ausgeschrieben, wozu brauchen wir Wahlen?<br />

Wir sind eine Monarchie!«<br />

»Morgen, Paps«, entgegnete Amelie, ganz Diplomatin,<br />

und lächelte süß. »Politik bitte in einer Stunde in meinem<br />

Arbeitszimmer.« Wenn sie lächelte, ging der linke Mundwinkel<br />

immer zuerst nach oben. Doch Seine Majestät war nicht<br />

zu beruhigen.<br />

»Wozu Wahlen?«, keuchte er und ließ sich in den Sessel<br />

fallen, den ein Diener in Gold flugs hinter ihn schob. Er setzte<br />

seinen Kneifer auf und starrte auf die Zeitung. Amelie ließ<br />

einige Sekunden verstreichen, bevor sie antwortete.<br />

»Paps, du hast es vergessen, stimmt’s? Vor zwei Monaten<br />

unterhielten wir uns über die konstitutionelle Monarchie.<br />

Diese setzt ein Parlament voraus und …«<br />

»Parlament! Papperlapapp! Wozu brauchen wir eine<br />

Schwatzbude? Ein Parla-Parla-Parlament – das Reden<br />

nimmt kein End … Können wir uns das überhaupt leisten?«<br />

»Die Staatsfinanzen sind durchaus in Ordnung, Paps.<br />

Damals hast du, wie schon so oft zuvor, gesagt, mach, was du<br />

willst und das hab ich getan. Nun lass uns doch endlich<br />

frühstücken.«<br />

Doch seine Majestät kam jetzt erst recht in Fahrt. Wütend<br />

blätterte er in dem Blatt. »Und was soll das? Gewaltenteilung,<br />

äh, Ju-di-ka-ti … , Exeku … , Legis-la … , wer kann denn<br />

diese Zungenbrecher lesen, geschweige denn buchstabieren?<br />

Was hat das zu bedeuten?«<br />

»Das bedeutet, mein herzallerliebster Papa, dass in Zukunft<br />

die Gesetzgebung – daher das Parlament –, die Rechtsprechung<br />

und die Polizeigewalt nicht mehr bei einer Person<br />

oder einem einzigen Gremium liegen, sondern auf verschiedene<br />

Organe verteilt werden. Das sorgt für mehr Gerechtigkeit. Die<br />

Begriffe Judikative, Legislative und Exekutive kommen aus dem<br />

Lateinischen.« Amelie lächelte noch immer geduldig.<br />

No. 2 • Mai 2009 andromeda extended magazine www.sfcd.eu • p. 93

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