300-dpi - p.machinery

Brombeeren sammeln zum Frühstück, und dann werde ich
dir alles erzählen.«
So geschah es, und Lara öffnete zum ersten Mal seit vielen
Jahren einem anderen Menschen ihr Herz. Als sie noch ganz
klein war, ihr Vater lebte noch, gab es im Königreich eine
große Hungersnot. Die Menschen im Lande schickten eine
Delegation zum König, mit der untertänigsten Bitte um Hilfe.
Doch der König war, wie immer er sich selbst sehen mochte,
weder gütig noch gerecht. Er ließ Soldaten aufmarschieren
und auf das Volk schießen. Doch nicht jeder Soldat schoss.
Einige erkannten das Unrecht, das der König befohlen hatte,
und liefen zum Volk über. Laras Vater, von den Leuten zum
Sprecher ernannt, rief auf zum bewaffneten Widerstand und
so entstand die Volksbefreiungsfront, kurz VBF. Einige Zeit
hatte diese Erfolg, man konnte die eine oder die andere Kaserne
erobern, dem Königreich Nadelstiche versetzen. In dieser
Zeit musste es gewesen sein, dass Prinzessin Amelie ihren
Vater de facto entmachtete und ihre Reformen einleitete. Die
ersten Maßnahmen beseitigten zunächst die gröbsten Ungerechtigkeiten,
die nächsten eröffneten mehr und mehr die
Mitwirkung der Menschen im Lande an ihrem Schicksal. Mit
anderen Worten: Der VBF wurde der Boden entzogen. Als sie
keinen Zulauf mehr bekam, marodierte die Truppe im Lande
umher und überfiel zunächst einsam liegende Höfe, die
wohlhabend genug erschienen, um Revolutionssteuern zu
erpressen. Doch das königliche Militär erschien in solchen
Fällen recht schnell auf der Bildfläche, und bei einer solchen
Aktion ereilte Laras Vater der Tod. Ihre Mutter zog sich mit
dem Rest der Truppe in die Wälder zurück, wo man an
Straßen und Wegen Sperren errichtete und Wegezoll erhob.
Letztendlich kam es so weit, dass die Reisenden einfach ermordet
wurden, und ihr Besitz verschwand in den dunklen
Kanälen von Schwarzgeschäften.
Grete pflückte Brombeeren und hörte aufmerksam zu. Sie
kannte die entsprechenden Akten aus dem Justizministerium,
und daher hätte sie sofort gemerkt, wenn Lara gelogen hätte.
Sie entsann sich aber auch einiger Ungereimtheiten, die ihr
beim Sichten der Unterlagen neueren Datums aufgefallen
waren. Bei Gelegenheit würde sie mal vorsichtig nachfragen.
Lara plapperte munter weiter. Neuerdings gingen die Geschäfte
wieder besser, denn man habe einen Verbündeten im
Schloss. Er gäbe die besten Tipps, wo wer unterwegs sei und
wo man zuschlagen könne, ohne in Konflikt mit der neu
gegründeten Polizeitruppe zu kommen.
Grete wurde aufmerksam. Ein Verräter im Schloss? Das
würde die Ungereimtheiten erklären. Sie stellte Lara ein paar
vorsichtige Fragen über die Identität der Person, doch scheinbar
wurde das Mädchen nun misstrauisch und konnte oder
wollte weiter nichts mehr dazu sagen.
Durch einen Spalt in der Burgmauer gelangten die beiden
in Laras Kämmerchen, ohne durch den Hof gehen zu müssen,
wo die Schurken von ihrer Hauptfrau bereits lautstark
für das Tagwerk eingeteilt wurden. Lara verschwand noch
einmal kurz, um etwas Ziegenmilch und Fladenbrot zu organisieren.
Grete lächelte still in sich hinein; die Kleine
hatte ganz vergessen, sie festzubinden. Während die
beiden Brombeeren zu Fladenbrot futterten, verriet
der Lärm auf dem Burghof, dass die marode
Truppe sich aufteilte. Eine kleinere Gruppe be-
gab sich mit einem Wagen voller Beutegut, ge-
tarnt als ehrbare Kaufleute, auf Schleichwegen
zum nächsten Marktflecken. Ein größerer
Trupp schwang sich auf die Pferde und ver-
schwand in entgegen gesetzter Richtung auf
Raubzug. Der kleine Rest, einschließlich Laras
Mutter, verblieb auf der Burg.