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im Schatten der Eiche. Wie ein Turm ragte der Baumstamm<br />

vor ihr auf; sie ging einmal darum herum, um einen Eindruck<br />

vom Umfang zu erhalten: Zwölf lange Schritte musste<br />

sie tun. Da sie Appetit bekommen hatte, setzte sie sich an den<br />

Fuß des Stammes und packte ein Butterbrot aus. Während sie<br />

es verzehrte, stellte sie sich die Leute vor, wie sie früher herkamen,<br />

um Recht zu suchen oder Gebete los zu werden. Bestimmt<br />

haben sie hier auch gevögelt, dachte sie, denn wie<br />

könnte ein Nachwuchs besser gedeihen als mit dem Segen<br />

eines Gottes. Mit solchen Gedanken biss sie in den Rest ihres<br />

Brotes, und siehe, da war noch ein kleines Stückchen übrig.<br />

Nun hatte sie letztens in einem Buch gelesen, im Altertum sei<br />

es Brauch bei einigen Völkern gewesen, nach Speis’ und<br />

Trank die letzten Krümel und Tropfen zurück zu lassen, als<br />

Opfer für die Götter. Margarete glaubte nicht an Götter,<br />

dennoch legte sie angesichts des ehrwürdigen Ortes den<br />

letzten Bissen auf das Moos zu ihren Füßen. Man konnte ja<br />

nie wissen. Auf jeden Fall würden sich die Ameisen freuen<br />

oder die Vögel.<br />

Sie stand auf und drehte sich zum Stamm, der ihr erschien<br />

wie eine Wand. Sie sah an diesem Koloss empor; er<br />

erschien ihr als Inbegriff eines Baumes: der Baum an sich.<br />

Die Arme weit ausgebreitet presste sie ihren Körper gegen den<br />

Stamm, schloss die Augen und fragte sich, warum sie das tat.<br />

Aber da war ein Taumel … ihr war, als öffnete sich in ihrem<br />

Inneren ein Auge, mit dem sie durch feste Gegenstände hindurch<br />

sehen und deren innerste Struktur erkennen konnte.<br />

Sie sah die Säfte, welche durch den Bast unter der Rinde<br />

nach oben in die Blätter schossen, sie analysierte jedes einzelne<br />

Jahr der Jahresringe: War es trocken, war es nass, war der<br />

Winter zu lang, war der Sommer zu heiß? Es lag alles offen<br />

vor ihr. Sie wusste nicht, wie lange sie in diesem Zustand<br />

verblieben war, doch als sie eben dachte, es wäre Zeit in die<br />

Realität zurückzukehren, war ihr zunächst, als würde sie der<br />

Baum umarmen. Dann sprang ein seltsames Prickeln von<br />

der Rinde in ihre Haut über. Es dehnte sich über ihren gesamten<br />

Leib aus und erstickte jeglichen klaren Gedanken.<br />

Das war fast wie ein Orgasmus und Margarete wich erschrocken<br />

zwei Schritt zurück. Die rätselhafte Präsenz verschwand,<br />

doch es erschien der jungen Frau als würden die<br />

Eichblätter ihr raschelnd zurufen: »Hab Mut, hab Mut!«<br />

Später, als sie Esmeralda von ihrem Erlebnis berichtete,<br />

war diese höchst erstaunt. »Du hast die Sicht«, sagte die<br />

Dame mit einer gewissen Ehrfurcht in der Stimme, »der<br />

Baum wurde wie gläsern, stimmt’s?«<br />

»Ja, zuerst war es so.«<br />

»Nun, die Sicht habe auch ich. Was denkst du, warum ich<br />

eine so erfolgreiche Heilerin bin? Wir können mit Mensch<br />

und Tier reden, aber die sagen uns nur, wo es wehtut, die<br />

Ursachen erblicke ich mit der Sicht. Ich wusste nicht, dass du<br />

sie hast.«<br />

»Ich auch nicht«, erwiderte Margarete, »aber da war noch<br />

etwas anderes.«<br />

»An solchen Orten bei Vollmond können die seltsamsten<br />

Dinge geschehen«, orakelte Esmeralda nachdenklich.<br />

»Die Präsenz, die du mir beschrieben hast, habe ich<br />

selbst weder erlebt noch Kunde davon. Vielleicht<br />

war es ein neugieriger Naturgeist, wer weiß. Es<br />

gibt geile Böcke darunter.«<br />

Einige Tage später hantierte Margarete in<br />

der Küche um ein Mahl zu bereiten, da hörte<br />

sie ein Geräusch. Es kam aus einer bunten<br />

Blechdose, die auf dem Küchenschrank stand.<br />

Ob da eine Maus hineingeraten war? Sie ging hin<br />

und öffnete die Dose, doch sie war leer. Eben<br />

wollte sie diese zurückstellen, da ertönte aus dem

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