E<strong>in</strong>e pauschalisierende Bezeichnung von Fahnenflüchtigen als »krim<strong>in</strong>elleElemente« geht bis auf wenige Ausnahmen fehl. Richtig ist, <strong>das</strong>s viele zurAbsicherung ihrer Flucht Diebstähle beg<strong>in</strong>gen oder Urkun<strong>den</strong> fälschten. Dochwie hätten sie e<strong>in</strong>e Flucht anders bewerkstelligen sollen? E<strong>in</strong>e Beurteilungdes Handelns dieser Soldaten muss die situativen Bed<strong>in</strong>gungen der Fluchte<strong>in</strong>beziehen.Das folgende Fallbeispiel aus dem Wehrmachtgefängnis Anklam veranschaulichtdie sich verändernde Spruchpraxis im Kriegsverlauf. Der Mar<strong>in</strong>e-Artillerie Gefreite He<strong>in</strong>rich A., Schiffbauer aus Kiel, leistete seit Sommer 1940Militärdienst. Im Frühjahr 1941 versuchte er, dem weiteren Kriegsdienst zuentfliehen. E<strong>in</strong> Feldgericht verurteilte ihn wegen unerlaubter Entfernung zusechs Jahren Gefängnis. Vom WG Anklam wurde er <strong>in</strong> die FGA 3 an die Ostfrontkommandiert. Während e<strong>in</strong>es Lazarettaufenthalts im Juli 1942 gelang esihm, se<strong>in</strong>e I<strong>den</strong>tität als Strafgefangener zu verheimlichen und sich wieder zurnormalen Truppe versetzen zu lassen. Über e<strong>in</strong> Jahr später flog der Schw<strong>in</strong>delauf. E<strong>in</strong>e Militärstreife verhaftete He<strong>in</strong>rich A. während se<strong>in</strong>es Urlaubs <strong>in</strong>Kiel. Das Gericht des Küstenbefehlshabers westliche Ostsee <strong>in</strong> Sw<strong>in</strong>emündeverurteilte ihn wegen Fahnenflucht zum Tode. Am 15. Februar 1944 wurdeHe<strong>in</strong>rich A. <strong>in</strong> Anklam erschossen. 205In <strong>den</strong> Augen der <strong>NS</strong>-Militärjuristen stellte <strong>das</strong> Überlaufen zum Fe<strong>in</strong>de<strong>in</strong>en besonders schweren Fall von Fahnenflucht dar. Unter <strong>den</strong> Überläufernf<strong>in</strong><strong>den</strong> sich überwiegend politisch motiviert handelnde Soldaten. Viele vonihnen reihten sich <strong>in</strong> die Partisanenbewegung oder die Rote Armee e<strong>in</strong>, um<strong>gegen</strong> die deutschen Besatzungstruppen zu kämpfen. Ihr Beispiel diente imDDR-Geschichtskanon zur Begründung der Kampfe<strong>in</strong>heit zwischen deutschenAntifaschisten und sowjetischer Armee. Stellvertretend sei Bruno Erdmannerwähnt. Am 9. September 1942 lief der aus Pasewalk stammende Jungkommunistvon der 129. Infanteriedivision zur Roten Armee über. Im Juli 1943gehörte er zu <strong>den</strong> Gründungsmitgliedern des NKFD. Später versuchte er ander Front mit Worten, deutsche Soldaten zum Aufgeben zu bewegen. In <strong>den</strong>letzten Kriegstagen kam Bruno Erdmann im Raum Güstrow zum Aufklärungse<strong>in</strong>satzh<strong>in</strong>ter der Front. 206Auch an der Westfront gab es Überläufer aus <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern.Der aus Crivitz stammende Ernst Krull lief zur französischen Partisanenbewe-205Bundesarchiv-Z<strong>NS</strong>, Nr. 9356.206Der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampf unter Führung der KPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933 bis1945, Berl<strong>in</strong> 1985, S. 277.76
gung über. Er nahm als Mitglied im Maquis von St. Anto<strong>in</strong>e an Sabotageakten<strong>gegen</strong> Eisenbahnl<strong>in</strong>ien und Stromleitungen sowie an Befreiungsaktionenteil. 207 Viele Überläufer hatte die Bewährungstruppe 999 zu verzeichnen. 208In der SS-Sonderformation Dirlewanger sollten der geme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>satz vonwehrunwürdigen Krim<strong>in</strong>ellen und Nazi-Gegnern sowie e<strong>in</strong> scharfes Überwachungs-und Strafreglement <strong>das</strong> Überlaufen verh<strong>in</strong>dern. Der <strong>in</strong> Plüschow beiGrevesmühlen geborene Kommunist Karl Wandschneider meldete sich nachjahrelanger Gefängnis- und KZ-Haft zur SS-Sonderformation im November1944. An der Front <strong>in</strong> Ungarn wurde er nicht beim Überlaufen von Faschistenerschossen, wie <strong>in</strong> der DDR-Historiographie zu lesen war, sondern verlor se<strong>in</strong>Leben während e<strong>in</strong>es sowjetischen Angriffs. 2093. Zersetzung der WehrkraftDie Versuche, sich dem weiteren Kriegse<strong>in</strong>satz zu entziehen, begrenzten sichnicht auf Fahnenflucht. Viele Soldaten täuschten Krankheiten vor oder fügtensich vorsätzlich Verletzungen zu. Konnten diese Taten nachgewiesen wer<strong>den</strong>,folgte e<strong>in</strong>e Anklage wegen Zersetzung der Wehrkraft. 210 Auch hier drohte dieTodesstrafe, wie <strong>das</strong> Beispiel des 20-jährigen Horst M. aus Lübeck zeigt. DerGefreite hatte sich 1942 freiwillig zur Flak gemeldet. Während e<strong>in</strong>es fluchtartigenRückzugs <strong>in</strong> Lettland im Juli 1944 fügte er sich e<strong>in</strong>en Schuss <strong>in</strong> die l<strong>in</strong>keHand zu. Die Selbstverstümmelung kam vor <strong>das</strong> Kriegsgericht und wurde am9. September 1944 mit dem Todesurteil geahndet. Im WG Anklam stellte erse<strong>in</strong> Gna<strong>den</strong>gesuch. Zwar wurde <strong>das</strong> Todesurteil bestätigt, doch die Entscheidungüber die Vollstreckung ausgesetzt. Er kam am 2. Oktober 1944 an dieOstfront <strong>in</strong> e<strong>in</strong> 500er Bewährungs-Bataillon. Mit dem drohen<strong>den</strong> Todesurteilim Nacken sollte er buchstäblich um se<strong>in</strong> Leben kämpfen. 211Auch zahlreiche Äußerungen von Kriegsmüdigkeit wur<strong>den</strong> als Zersetzungder Wehrkraft verfolgt. Der Masch<strong>in</strong>engefreite der Mar<strong>in</strong>e Otto H., geboren1911 <strong>in</strong> Bremen, hatte im angetrunkenen Zustand »unter Kamera<strong>den</strong> geäußert,207Pech, Karlhe<strong>in</strong>z, An der Seite der Résistance, Berl<strong>in</strong> 1987 2 , S. 152,169.208Der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampf unter Führung der KPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933 bis1945, Berl<strong>in</strong> 1985, S. 246 ff.209Klausch, Hans-Peter, Antifaschisten <strong>in</strong> SS-Uniform. Schicksal und <strong>Widerstand</strong> der deutschenpolitischen KZ-Häftl<strong>in</strong>ge, Zuchthaus- und Wehrmachtgefangenen <strong>in</strong> der SS-SonderformationDirlewanger, Bremen 1993, S. 259.210Reichsgesetzblatt, Teil I, Nr. 147 vom 26.8.1939, S. 1456.211Bundesarchiv-Z<strong>NS</strong>, SV 165.77
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