2 Physikalische Grundlagen2.3.1. Die Neutrino-HypotheseDie Untersuchung <strong>der</strong> radioaktiven Strahlungen stieß nach ihrer Entdeckung 1896 baldauf Schwierigkeiten. Man ging davon aus, dass beim <strong>β</strong>-Zerfall, ähnlich wie beim α-Zerfall, ein einzelnes Objekt ausgesandt wird. Diese Hypothese eines Zweikörper-Zerfallsvertrug sich ganz und gar nicht mit den experimentellen Beobachtungen. Während dasSpektrum von α-Strahlern aus diskreten, monoenergetischen Linien besteht, zeigt dasSpektrum von <strong>β</strong>-aktiven Nukliden eine kontinuierliche Energieverteilung. Wenn manaber den Energie- und Impulserhaltungssatz nicht aufgeben will, so erwartet man voneinem Zweikörper-Zerfall eine feste Energie <strong>der</strong> Zerfallsprodukte und damit ein scharfesLinienspektrum. Die emittierten <strong>β</strong>-Teilchen nehmen dagegen innerhalb eines Bereichszwischen 0 und E max alle möglichen Energien an. Lediglich die Teilchen mit <strong>der</strong> GrenzenergieE max erfüllen die Erwartung. Den meisten Zerfallselektronen bzw. -positronenfehlt folglich Energie. Neben dem <strong>kontinuierlichen</strong> Energiespektrum sind noch weitereexperimentelle Fakten nicht mit <strong>der</strong> Vorstellung eines Zweikörper-Zerfalls in Einklangzu bringen. Die beiden Nukleonen besitzen wie Elektronen halbzahligen Spin /2. DerGesamtdrehimpuls des Kerns wird zusätzlich durch <strong>der</strong>en Bahndrehimpuls bestimmt.Da <strong>der</strong> Bahndrehimpuls nur ganzzahlige Werte von annimmt, ist <strong>der</strong> Kernspin bei gera<strong>der</strong>Nukleonenzahl A insgesamt ganzzahlig, bei ungeradem A halbzahlig. Nun än<strong>der</strong>tein <strong>β</strong>-Zerfall die Nukleonenzahl A zwar nicht, aber das emittierte <strong>β</strong>-Teilchen nimmt denSpin /2 mit. Die Spinbilanz, d.h. die Erhaltung des Drehimpulses wäre also ebenfallsverletzt. Will man die bisher bewährten Erhaltungssätze von Energie, Impuls undDrehimpuls „retten“, so könnte man annehmen, dass sich beim <strong>β</strong>-Zerfall ein drittes Teilchenbeteiligt, das die fehlende Energie, den fehlenden Impuls und Drehimpuls fortträgt.Im Jahre 1930 befreite Pauli 11 die Physik aus ihrer Krise und postulierte in einemBrief an die „radioaktiven Damen und Herren“ <strong>der</strong> Physikertagung in Tübingen dieExistenz eines weiteren, elektrisch neutralen Teilchens mit Spin /2, das er vorläufig„Neutron“ nannte [16]. Da das hypothetische Teilchen nahezu masselos sein musste,schlug Fermi 12 1933 den Namen Neutrino (ital. „kleines Neutron“) vor, um es vom 1932von Chadwick 13 entdeckten Kernbaustein unterscheiden zu können. Pauli sollte rechtbehalten, das Neutrino (genauer das Antineutrino) wurde tatsächlich experimentellnachgewiesen. Allerdings gelang dieser Nachweis erst 25 Jahre nach dem Postulat mitHilfe <strong>der</strong> Reaktion p + ν → n + <strong>β</strong> + , bei <strong>der</strong> ein Antineutrino aus <strong>β</strong>-Umwandlungenvon einem Proton eingefangen wird, das sich dabei in ein Neutron umwandelt und einPositron aussendet. Es wurde zudem festgestellt, dass verschiedene Arten von Neutrinosexistieren und zu je<strong>der</strong> außerdem ein Antiteilchen. Neutrinos entkommen zwar wegenihrer äußerst geringen Wechselwirkung mit Materie unbeobachtet, sie dürfen jedoch in<strong>der</strong> Energiebilanz des <strong>β</strong>-Zerfalls nicht vernachlässigt werden.11 Wolfgang Ernst Pauli: 1900 - 1958, österreichischer Physiker, 1945 Nobelpreis <strong>der</strong> Physik.12 Enrico Fermi: 1901 - 1954, italienischer Physiker, 1938 Nobelpreis für Physik.13 Sir James Chadwick: 1891 - 1974, englischer Physiker, 1935 Nobelpreis für Physik.12
2.3 Der <strong>β</strong>-Zerfall2.3.2. Zerfallsprozess und EnergiebilanzDie fundamentale Bedeutung des <strong>β</strong>-Zerfalls besteht darin, dass er durch eine Wechselwirkungzwischen physikalischen Objekten verursacht wird, die in <strong>der</strong> klassischen Physiknicht bekannt ist - die sog. schwache Wechselwirkung [12]. Sie führt dazu, dass sich dieverschiedenen Quark-Arten, aus denen die Nukleonen 14 bestehen, durch Aussendeneines Austauschteilchens, dem W-Boson, ineinan<strong>der</strong> umwandeln (Abb. 2.5). Währenddas umgewandelte Quark als Bestandteil des umgewandelten Nukleon seine Rollebeibehält, verlassen die weiteren entstehenden Teilchen den Kern. Die beim <strong>β</strong> − - und<strong>β</strong> + -Zerfall freiwerdende Ladung wird in Form eines Elektrons o<strong>der</strong> Positrons emittiert.Sie werden aus historischen Gründen als <strong>β</strong>-Teilchen bezeichnet. Da <strong>β</strong>-Zerfallsprozesseeine sehr viel kleinere Übergangswahrscheinlichkeit haben als Prozesse, die durch Kernkräfteo<strong>der</strong> elektromagnetische Kräfte verursacht werden, spricht man von „schwacher“Wechselwirkung.Bei Umwandlungsprozessen zwischen Elementarteilchen muss sowohl die Baryonenzahlals auch die Leptonenzahl erhalten bleiben. Dabei wird einem Lepton 15 die ZahlL = +1 und seinem Antiteilchen L = −1 zugeordnet. Es entsteht also jeweils einweiteres leichtes Teilchen, das Antineutrino ν bzw. das Neutrino ν, so dass auf beidenSeiten die Zahl <strong>der</strong> Leptonen „kompensiert“ wird. Da <strong>β</strong>-Zerfälle isobar sind, bleibtauch die Zahl <strong>der</strong> Baryonen 16 erhalten.(a)(b)Abb. 2.5.: Feynman-Diagramm zur schwachen Wechselwirkung. Die durchgezogenen Linien entsprechenden Nukleonen im Anfangs- und Endzustand, die gestrichelte Linie symbolisiert dasAustauschteilchen. (a) <strong>β</strong> − -Zerfall des Neutrons durch (b) Umwandlung eines d-Quarks.14 Protonen: uud, Neutronen: udd. Dabei bedeutet u: up-Quark und d: down-Quark.15 Leptonen (griech. leptos = leicht) gehören neben den Quarks zu den fundamentalen Bausteinenaus denen sich Materie zusammensetzt (z.B. e − , e + , ν, ν).16 Baryonen (griech. barys = schwer) sind Elementarteilchen, die aus jeweils drei Quarks bestehen(z.B. p, n).13