Holger Michael • VOM BALTIKUM NACH KLEINASIEN

formierten Gruppe der oberen Klassen, die gerade ihre
vormilitärische Ausbildung absolvierten. Dann ergriff ein
noch rüstiger Veteran das Wort. Nach seiner kurzen Rede
sang er das Lied vom blauen Taschentuch, zu jener Zeit
ein bei den Rotarmisten und den anderen Sowjetbürgern
besonders beliebtes Lied. Die etwa eintausend Kinder und
Jugendlichen waren ganz still und ergriffen, keiner lachte
oder machte dumme Bemerkungen. Anschließend tanzten
etwa 10 Schülerpaare nach einem nun in Neuauflage
von Kristina Orbakajtje gesungenen Lied aus jenen Tagen
und empfanden so die Stimmung nach, die nach jenem
höchst opferreichen Krieg die Menschen im befreiten Europa
überall zum Tanzen brachte. Dieses Mal wollte ich
jenen Menschen, die auch für unsere Befreiung gekämpft
hatten, meinen persönlichen Dank aussprechen. Ich war
schon bei den Veteranen, die von Schülern nun zu einem
Empfang geleitet werden sollten, doch Ergriffenheit ließ
mir die Stimme versagen. So konnte ich nur noch ein
Foto von ihnen machen. Als ich dann nach Hause ging,
war ich böse auf mich. Nun, da ich in zwei Monaten
Kasachstan verlassen sollte, hatte ich es wieder nicht fertiggebracht,
ihnen ein paar nette Worte zu sagen. Es hätte
ihnen gewiss viel gegeben, wenn gerade ein Deutscher aus
der untergegangenen DDR ihnen zu ihrem und letztlich
auch unserem Sieg gratuliert hätte.
Schon eine Woche vorher, eigentlich seit dem 1.
Mai, hatten die russischen und kasachstanischen Medien
die Bevölkerung auf dieses Ereignis vorbereitet. Jeden Tag
wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit sowjetische Kriegsfilme
eingespielt, Interviews mit Veteranen und Spezialsendungen
gegeben. Auch im Radio waren die alten
Lieder aus jenen Jahren zu hören. Straßen und öffentliche
Gebäude wurden mit Fahnen und Emblemen des Sieges
geschmückt. Dann war es soweit. Überall auf den Stra-
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