Holger Michael • VOM BALTIKUM NACH KLEINASIEN

Kasachen Kunajew hatten sich nicht nur die Kasachen
gewöhnt. Auch die Gorbatschow ablehnenden Kräfte unter
den anderen Nationalitäten zogen Kunajew gegenüber
einem Favoriten des obersten Parteichefs vor. Mit dieser
unrealistischen Entscheidung provozierte Gorbatschow
die sogenannten Dezemberereignisse 1986 in Alma-Ata.
Am nächsten Tag zogen bis zu 3 000 Demonstranten
– zumeist Jugendliche – vor das ZK-Gebäude in Alma-Ata
und forderten die Durchsetzung der Lenin’schen Nationalitätenpolitik
und die Einsetzung eines Kasachen als Ersten
Sekretär. Diese Manifestation trug keinen antisowjetischen
Charakter. Auf der Tribüne erschien u. a. auch Ministerpräsident
Nasarbajew und versuchte, die Massen zu beruhigen.
Als die Demonstranten nun anfingen, die drei Vertreter
der Staats- und Parteiführung auszupfeifen und mit
Schneebällen zu bewerfen, schritt die Staatsmacht ein und
es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, die bis Mitternacht
andauerten. Dann zogen sich die Demonstranten
– um Schwerverletzte dezimiert – ins Stadtzentrum zurück.
Dieser Demonstration wird heute offiziell in jedem
Dezember gedacht und das als Ausdruck nationaler Emanzipation
interpretiert. Die Teilnehmer dieser Demonstration,
die faktisch auch gegen Nasarbajew, den späteren
ersten Präsidenten, Schneebälle geworfen hatten, werden
heute geradezu zu Helden eines unabhängigen Kasachstans
verklärt. Das funktioniert bis heute nicht, denn die
staatliche Unabhängigkeit Kasachstans wurde weder gefordert
noch angestrebt. Doch in Ermangelung authentischer
kasachischer Unabhängigkeitsbewegungen mussten diese
Ereignisse dafür pragmatisch herhalten. Dessen ist sich die
kasachstanische Führung wohl bewusst, denn hierzu gibt
es heute nur äußerst knappe Kommentare.
Noch weniger kann sich das heutige Kasachstan auf
die Ereignisse des folgenden Tages berufen: Nun begannen
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