Holger Michael • VOM BALTIKUM NACH KLEINASIEN

ausbildung eines sich emanzipierenden Städtebürgertums.
Diese Funktion übernahmen von den Herrschenden direkt
abhängige Juden, die in den Städten oft mehr als die
Hälfte der Einwohner ausmachten. Vertreter dieser Bevölkerungsgruppe
verwalteten die Güter ihrer polnischen
Herren, trieben für sie Geld und Abgaben ein, forderten
Arbeitsleistungen ab, besaßen die meisten Handelseinrichtungen,
Handwerksbetriebe, Versicherungen, Banken
und Unternehmen, waren führend beim Kauf und Verkauf
landwirtschaftlicher Produkte und als Wirtshauspächter
überall zugegen. Ukrainer, die hinter dem Dnjepr als Kosaken
ein ungebundenes Leben führen wollten, flohen nicht
zuletzt vor diesen Gläubigern. Zudem stellten Juden hier
den größten Teil der Intelligenz, mit dem die schwache
ukrainische Intelligenz nicht konkurrieren konnte.
Sie unterhielten zu Ukrainern oft sozialökonomisch
brisante Kontakte und galten dadurch als Personifizierung
polnischer Fremdherrschaft. Von vielen ukrainischen
Bauern, Handwerkern und Händlern wurden sie als Existenzbedrohung
empfunden.
Dabei ging die Tatsache unter, dass es natürlich auch
nicht wenige jüdische Arbeiter und Kleinbürger gab. Der
latente Antisemitismus, der historische Wurzeln hatte,
führte dazu, dass in der Westukraine die meisten Pogrome
an Juden in der Zeit vor dem Holocaust stattfanden.
Beim Volksaufstand unter Bogdan Chmelnitzki im 17.
Jahrhundert, der den Rückzug der Polen aus der Ukraine
einleitete, kam es zum bisher größten Massaker an Juden
in Europa nach dem Mittelalter (100 000 Tote).
Nach 600 Jahren musste Polen das Feld dem erstarkten
Russland überlassen, gegen das sich im 19. Jahrhundert
eine kleinbürgerlich-nationalistische Bewegung
herausbildete. Zentrum des ukrainischen Nationalismus
wurde und blieb bis heute das damals von Österreich
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