Holger Michael • VOM BALTIKUM NACH KLEINASIEN

der NATO gleichziehen. Die UdSSR vollbrachte hierbei
eine enorme und historisch einmalige Leistung. Es gelang
ihr, mit den USA trotz gleichzeitigen wirtschaftlichen
Rückstands militärstrategisch mitzuhalten. Das ging auf
Kosten der Entwicklung der Infrastruktur, eines Teils der
Leichtindustrie und vor allem auf Kosten des Lebensstandards
der Sowjetbürger. Die Sowjetmacht, die alle gegen
sie geführten Kriege gewonnen hatte, war immer weniger
in der Lage, den Frieden zu gewinnen.
Dennoch ging es fast jedem besser als heute. Trotz
erheblichen Warendefizits hatten die meisten ihr Auskommen,
verbrachten die Sowjetbürger ein behütetes Leben,
hatten nach kostenloser und guter Ausbildung relativ gute
und pünktlich bezahlte Arbeit und bei entsprechendem
Fleiß, loyalem gesellschaftlichem Verhalten und persönlicher
Eignung nahezu alle Entwicklungsmöglichkeiten.
Keine sowjetische Frau war gezwungen, als Prostituierte
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Trotz erheblichen
Wohnungsmangels gab es keine Obdachlosen, trotz mangelhafter
moderner medizinischer Ausstattung war die
Geburtenrate sehr hoch, die Kindersterblichkeit gering
und die medizinische Versorgung kostenlos. Urlaube in
den schönsten Gegenden der Union gehörten zur Normalität.
Obwohl es auch hier Kriminalität gab, war sie doch
nicht so beängstigend, dass man bei Einbruch der Dunkelheit
schnell zu Hause sein wollte. Die offenen Wohnungstüren
waren sprichwörtlich. Statt Kindergangs und
in den Kanalisationen lebender Halbwüchsiger gab es ein
System von Kinderferienlagern und gut bezahlten Möglichkeiten,
sich auf den Großbaustellen zu bewähren. Obwohl
Korruption nie ausgemerzt worden war, bestimmten
nicht Rubel und Dollars über das Fortkommen der Kinder,
sondern ihre Fähigkeiten. Heute gehört Korruption
zum täglichen Leben und nahezu zum guten Ton.
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