Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Franz Erhard Walther — Plastische Handlung im Raum<br />
Franz Erhard Walthers Schaffen ist ein sich ständig wandelndes<br />
Forschungsprojekt. Für den deutschen Künstler ist ein Werk nie<br />
fertig: Zusammen mit dem Publikum muss es stets neu entstehen.<br />
Ein bedeutendes Beispiel seiner partizipativen Kunst, der<br />
unverändert aktuelle ‹1. Werksatz›, ist in Winterthur erfahrbar.<br />
Winterthur — Da liest man: «Die Tätigkeit des Menschen wird zum Gegenstand der<br />
Kunst». Liest: «Die Geste ruft den Raum», «Zeit ist Werkstoff». Und hört: «Anspannung<br />
– Entspannung»; «Der Körper argumentiert». «Das Feld entwickelt sich ungleichmässig»;<br />
«Der Raum ausserhalb des Feldes»; «Sockeldenken»; «Die Körper<br />
sprechen mit ihrem Volumen»; «Die Skulptur existiert nur für eine kurze Zeit». Und<br />
sieht:vier kleine Bildschirme, etwa drei Dutzend zumeist von beiden Seiten beschriebene<br />
Originalzeichnungen, über hundert Fotoprints und auf dem hellgrauen Teppich<br />
am Boden vier Pakete aus naturweissem Stoff, die, wie man erahnt, wiederum Stoffobjekte<br />
bergen. Wir befinden uns im hohen Oberlichtsaal der Kunsthalle und werden,<br />
spätestens wenn wir die Schuhe ausziehen und den Teppich betreten, Teil der Ausstellung<br />
‹Franz Erhard Walther – Körper Raum Zeit›. Wer wie ich all die grossen Auftritte<br />
seit ‹Wenn Attitüden Form werden› in der Kunsthalle Bern 1969 des mittlerweile<br />
fast 82-jährigen Fuldaer Künstlers bisher verpasst hat, spürt dennoch rasch: Hier<br />
ist einer am Werk, für den nicht die klassischen Gattungen zählen, sondern Prozess<br />
und Bewegung. Ein Künstler, der Kunst als Form des aktiven Handelns begreift. Und<br />
vom Publikum Imaginations- und Urteilskraft fordert.<br />
Für die Ausstellung im Rahmen seines Jubiläumsprogramms hat das Kuratorenkollektiv<br />
Oliver Kielmayer, Joëlle Menzi und Thomas Zacharias vier von insgesamt<br />
58 Nummern aus Walthers legendärem ‹1. Werksatz› (1963–1969) ausgewählt. Die<br />
erwähnten Objekte auf dem Teppich fordern zu «Werkhandlungen» auf; die Videos<br />
halten fest, wie eine solche «Aktivierung» geschehen kann; die Fotos dokumentieren<br />
eine Fülle von Aktivierungen; die Zeichnungen, oft nicht einfach zu verstehen,<br />
sind Notate zu und Ausdruck von einem unglaublich reichen Beziehungswerk. Nur<br />
ein bisschen gucken bringt da gar nichts. Und zumindest in Gedanken muss auch der<br />
eigene Körper aktiv werden,was am besten geschieht,wenn man sich die Videos ganz<br />
anschaut und seinen Platz darin findet – egal, ob allein auf dem Werkstück ‹Form für<br />
Körper›, zu zweit auf den Matten von ‹Gegenüber›, zu viert in ‹Vier Körpergewichte›<br />
oder, besonders schön, in ‹Zehn Sockel (Ort Distanz Richtung)› mitten in Walthers<br />
Herzenslandschaft und grösstem Atelier, der Hochrhön, mit Wind und wachsenden<br />
Schatten. Das Besondere an dieser besonderen Schau: Man kann anhand der Stoffobjekte<br />
selbst am Werk und seiner Geschichte teilhaben. Angelika Maass<br />
→ ‹Franz Erhard Walther – Körper Raum Zeit›, Kunsthalle Winterthur, bis 27.6.<br />
↗ www.kunsthallewinterthur.ch<br />
100 <strong>Kunstbulletin</strong> 6/<strong>2021</strong>