Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Stefano Boccalini<br />
Genf — Stefano Boccalinis Kunst spielt auf<br />
ganz unterschiedlichen Ebenen und impliziert<br />
viele Akteure. Wie lässt sich diese Vielfalt deuten?<br />
Wo beginnen? Bei den Tatsachen: Das von<br />
Adelina von Fürstenberg kuratierte Projekt ist<br />
Teil von ART for the World Europa (eine Genfer<br />
NGO der UN) und ist in Zusammenarbeit mit<br />
dem Kultursektor des Valle Camonica als Teil<br />
des von Boccalini geleiteten Ca’Mon (Centro<br />
per l’arte e l’artigianato della montagna)<br />
entstanden. Der Mailänder Konzeptkünstler<br />
Stefano Boccalini (*1963) arbeitet hier seit<br />
Jahrzehnten mit Communities. In den 2000er-<br />
Jahren war er mit Bert Theis Mitbegründer des<br />
Isola Art Center, einem selbstorganisierten<br />
Zentrum für internationale Gegenwartskunst<br />
im Isolaquartier in Mailand, das sich mit der<br />
Quartierbevölkerung (vergebens) gegen die<br />
Gentrifizierung wehrte. Nach dem abrupten<br />
Ende des Kunstzentrums durch den Bau der<br />
Porta-Nuova-Hochhäuser 2013 wandte sich<br />
Boccalini den traditionellen Handwerkern<br />
und Handwerkerinnen des Brescianer Val<br />
Camonica zu und begann mit Webern, Schnitzerinnen,<br />
Korbflechtern und Stickerinnen<br />
zusammenzuarbeiten. Das Ca’Mon, dessen<br />
Gründer und Direktor er ist, bezweckt, das<br />
handwerkliche Knowhow weiterzugeben, den<br />
Austausch von intellektuellem und manuellem<br />
Wissen zu fördern und prozessbasierte<br />
Forschung und Experimente in Handwerk und<br />
Kunst zu ermöglichen. Bei Boccalinis Ansatz<br />
der Community-based Relational Art ist die<br />
Location selbst bedeutungsvoller Teil des<br />
Ausstellungskonzepts: Die handwerklichen<br />
Artefakte aus dem Val Camonica interagieren<br />
präzis mit den Exponaten der Maison Tavel,<br />
dem Genfer Stadt- und Wohnmuseum. Die<br />
verwobenen, geschnitzten Objekte basieren auf<br />
einer Serie von nicht übersetzbaren Begriffen<br />
aus verschiedenen Sprachen: Balikwas meint<br />
etwa, seinen Blickpunkt zu wechseln, Orenda<br />
die Fähigkeit, die Welt zu verändern. Im zweiten<br />
Teil der Ausstellung stammen die Wörter aus<br />
Interviews mit Genfer Bürgern, die aufgefordert<br />
wurden, ihre Stadt zu definieren. Die Körper<br />
gewordenen Begriffe Banques, Bunker, Confort,<br />
Luxe überraschen uns als Teppiche, Gardinen,<br />
Überzüge oder Körbe inmitten der eleganten<br />
Wohnräume aus dem 18. und 19. Jahrhundert.<br />
Mit seinen kontextspezifischen Installationen<br />
wagt Boccalini einen Spagat zwischen Konzeptkunst<br />
und traditionellem Handwerk, eine<br />
intellektuelle Reinterpretation der Manualität:<br />
Die Vernunft ist in den Händen! BF<br />
Stefano Boccalini · La ragione nelle mani, <strong>2021</strong>,<br />
Ausstellungsansicht, Maison Tavel, Genf<br />
Stefano Boccalini · La ragione nelle mani, <strong>2021</strong>,<br />
Ausstellungsansicht, Maison Tavel, Genf<br />
→ Musée d’Art et d’Histoire, Maison Tavel, bis<br />
27.6.; ‹La ragione nelle mani›, Archive Books,<br />
Berlin, <strong>2021</strong><br />
↗ institutions.ville-geneve.ch<br />
68 <strong>Kunstbulletin</strong> 6/<strong>2021</strong>