Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Ob die Vision des Dichters, die der Maler Johann Heinrich Füssli<br />
1806/07 in London schuf, auch im Sinne eines Dichters wäre,<br />
der sich von seiner Muse Lorbeer wünscht? Genauer besehen<br />
könnte sich die feierliche Krönung des Poetenhauptes hier auch<br />
leicht als ein böser Schabernack entpuppen. Samuel Herzog<br />
Obwohl ich nun schon seit bald vierzig Jahren täglich dichte, habe ich doch noch nie<br />
davon geträumt, dass eine Muse herbeifliegt und mich küssen oder mir einen Lorbeerkranz<br />
auf den Schädel setzen wollte. Das mag seinen Grund darin haben, dass<br />
ich auch noch nie mit einer Lyra zu Bett geschlüpft bin. Habe ich nachts Visionen, die<br />
mit meiner Schreibarbeit zu tun haben, dann geht es darin meist um verpasste Termine<br />
oder abgelehnte Manuskripte, um zähnefletschende Redaktoren und Korrektoren<br />
mit Rotstiften, die wie Splitterbomben über meinen Sätzen explodieren. Es geht um<br />
die Scham unverschämter Ansprüche, um Ungenügen und Unbehagen in jeder Kultur.<br />
Würde sich tatsächlich eine Muse in dieses Kriegsgebiet vorwagen, ich würde sie<br />
wahrscheinlich für einen feindlichen Geist halten und mit giftiger Tinte nach ihr spritzen.<br />
Das könnte allerdings ein weiterer Grund sein, warum die Töchter von Mnemosyne<br />
und Zeus nie bei mir auftauchen: Vielleicht hocken sie vereint in der Waschküche und<br />
sind vollauf damit beschäftigt, sich die Sepia aus der Toga zu spülen.<br />
Johann Heinrich Füssli (1741, Zürich bis 1825, Putney/London) hat sich so ein<br />
Schreiberleben und vor allem Schreiberträumen anscheinend etwas anders vorgestellt.<br />
In seiner ‹Vision des Dichters› ist der Poet in seinem malvenfarbigen Schlafgewand<br />
so weggenickt, dass sein entblösster Hals geradezu danach schreit, geküsst zu<br />
werden. Durchaus zum Entzücken der Erscheinung, nennen wir sie Muse, die sich aus<br />
dem Nichts der Nacht über ihm materialisiert, mit gewaltiger Nase und rot leuchtenden<br />
Lippen, die ihr vor Begeisterung leicht verschoben im Gesichte stehen. Geführt<br />
von einem dicken Arm krabbelt ihre Rechte, einer bleichen Spinne ähnlich, über die<br />
rote Lehne der Liege auf die Harfe zu, die der Schreiber wie eine Geliebte vor der Brust<br />
hält. Wird der Zeigefinger gleich ein Tönchen aus den Saiten zupfen, eine Lobeshymne<br />
erklimpern? Entschieden streckt die lustige Lady derweil mit der Linken einen Lorbeerkranz<br />
über dem Haupt des Dichters aus, dem im Vorgefühl seines Glücks schon<br />
mal die Schlafmütze von der Stirne gerutscht ist. Nicht aber das Haarnetz! Ob das<br />
würdig ausschauen wird, so eine krautige Krone auf einem Spitzenhäubchen?<br />
Vielleicht ist das der Grund für die fiese Freude des Fräuleins, das sich als Mäuschen<br />
im Schatten der Muse über die Schlafstatt des Dichters beugt? Auch ihr Händchen<br />
krabbelt bereits gierig auf den Poeten zu. Ihr Blick lässt nichts Gutes erahnen?<br />
Könnte es sein, dass hier gleich ein Dichter zum Dödel wird? Armer Kerl!<br />
Ich werde für meinen Teil also wohl auch künftig lieber ohne Lyra zu Bette gehen.<br />
Samuel Herzog, Textbauer, Inselbauer, Schüttsteinschreiber. info@samuelherzog.net<br />
→ Sammlerstücke: Autor/innen kommentieren Werke aus der Sammlung für Kunst, Kultur und<br />
Geschichte ihrer Wahl ↗ www.skkg.ch<br />
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