Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Gleich einer Beschwörung der Artenvielfalt lässt Mireille Gros<br />
seit einem Transzendenzerlebnis 1993 in einem afrikanischen<br />
Primärwald beständig neue Pflanzen entstehen. Noch nie hat<br />
sie diesen Werkzyklus monumentaler, kompakter und farblich<br />
kühner aufgeschlagen als im Empfang des CHUV auf Einladung<br />
der neuen Spitalkuratorin Karine Tissot. Katharina Holderegger<br />
Die 3,5x15 m grosse Installation ist als Ganzes kaum zu erfassen. Zwei der massigen<br />
Doppelsäulen, die das Hauptgebäude des Centre hospitalier universitaire vaudois<br />
CHUV stützen, verstellen die Übersicht. Über einem Sockelfries aus zu Streifen<br />
zerschnittenen und hochkant wieder zusammenmontierten Zeichnungen hat Mireille<br />
Gros für den Empfang des Spitals ein Salonhängung von rund 200 Zeichnungen aus<br />
den letzten zwei Jahren der Reihe ‹The Fictional Plant Diversity/TFPD› erarbeitet.<br />
Die seit 28 Jahren wachsende Werkgruppe wird gerade so als Zusammenspiel unterschiedlicher<br />
bildsprachlicher Stadien und als einzigartiges Kontinuum erfahrbar.<br />
Trotzdem beruht die Ausstrahlung des Werks auf den einzelnen Bildereignissen.<br />
Da Mireille Gros beständig die Werkzeuge, die Farbstoffe und die Unterlagen verändert,<br />
geht jede Zeichnung, jedes Gemälde aus einem intimen, kaum vorhersehbaren<br />
Dialog hervor. Sie strebt in ihrem Schaffen das Gegenteil einer Kontrolle des Verlaufs<br />
und des Ergebnisses durch Wissen und Können an. Sie entdeckt und schwingt sich<br />
ein, bis die «irreduktible Komplexität» eines Werks erreicht ist. Im Gegensatz zu den<br />
Gemälden gibt es bei den Zeichnungen jedoch kein Zurückbuchstabieren. Gelingt<br />
Mireille Gros eine ihrer Interventionen mit feuchtem und weichem Pinsel oder auch<br />
sprödem Bleistift auf stets anderen Papieren und Kartons nicht, lässt sie sich auf<br />
der Rückseite auf die besondere Schwierigkeit ein, aus dem versehrten Blatt doch<br />
noch etwas «Atmendes» zu ziehen. Sonst wird die Zeichnung in Collagen rezykliert,<br />
die in der CHUV-Installation wie Humus erscheinen, aus dem Neues spriesst. Wie Tod<br />
und Zerfall in der Natur, findet sich in Gros’ Œuvre künstlerisches Scheitern zugleich<br />
verschwenderisch und haushälterisch integriert.<br />
Erblühendes und Versamendes<br />
Obschon der Technikwechsel – kunsthistorisch spannend – in der Regel auch<br />
einen Stilwandel nach sich zieht, weisen die Arbeiten von Mireille Gros einen hohen<br />
Grad an Wiedererkennbarkeit auf. Die Linien und die Felder bewegen sich geschmeidig<br />
und verjüngend von unten nach oben zu einer Knospe oder einer Blüte, die sich<br />
öffnend reckt oder neigt. Die Farben schieben sich gegenseitig von hinten nach vorne<br />
bis zu dieser Kulmination, die da und dort bereits Samen ausfliegen lässt. Spielt auf<br />
den Zeichnungen meist nur eine Pflanzenart in der Mitte die Hauptrolle, verweisen<br />
die Gemälde mit ihren oft angeschnittenen und bildsprengenden Formen auf ganze<br />
Biotope unterschiedlichster Grössenordnung. Dabei haben ihr die ausgiebige Beschäftigung<br />
mit den Schriften und Tafeln von Farbforschern wie Johann Wolfgang<br />
50 <strong>Kunstbulletin</strong> 6/<strong>2021</strong>